Editorial
»Sperma zum Frühstück«, verlautbart die Frauenzeitschrift Jolie, »sei nur eine Möglichkeit mehr Sex« in den Alltag zu bringen. »Wer früher vögelt« fange halt den Wurm. Unumwunden mal den »Schwanz Ihres Mannes kommentarlos in den Mund nehmen«, wird hier der modernen Frau empfohlen – das gelte in »Fachkreisen als bester Wecker ever«. Passend dazu wird in der Entsprechung für die männliche Zielgruppe, der Men's Health, der »ultimative Penis-Charakter-Check« angeboten. Zum perfekten Penischarakter gehöre z.B. immer zu können. Das zu »trainieren« sei simpel: Einfach mit ihr schlafen, wenn ihm »eigentlich nicht der Sinn danach steht«. »Denken Sie an einen Callboy«, wird der Tipp gegeben, der bekomme schließlich »auch dann eine Erektion, wenn sich vor ihm ein hässliches Entlein räkelt.«
Was vor 20 bis 30 Jahren in die BlitzIllu oder die Praline gehört hätte, hat seine Anrüchigkeit verloren und präsentiert sich heute etwas weniger klebrig, dafür selbstbewusst und handlungsanleitend auf den Sexratgeberseiten der meisten Männer- und Frauenlifestylemagazine, die neben der Verabreichung von Fitness- und Beautytipps auch den Sex ihrer LeserInnen aufzupeppen versprechen.
Wer sich von diesen Anleitungen eher peinlich berührt bis angewidert fühlt, braucht sich allerdings keine Sorgen zu machen, damit allein zu sein. Das sportive Reden über Sex als etwas vorgeblich Unproblematischem und Alltäglichem kennzeichnet nur die eine Seite des ideologischen Diskurses der letzten Jahre. Es weist darauf hin, dass die einstige patriarchale Befürchtung, sexuelle Bestrebungen schwächten die Arbeitsmoral, dadurch hinfällig geworden ist, dass das Sexualleben Charakteristika der Arbeit annimmt: Optimierung, Pflichterfüllung, Performance. Die Organisation der Sexualität wird zunehmend – wie der Produktionsprozess insgesamt – nach dem Leistungsprinzip gestaltet. Auf der anderen Seite wird ein Verschwinden der romantischen Gefühle moniert, die durch die »Sexualisierung« angeblich keinen Platz mehr haben – Bezugspunkt ist dabei häufig die »sexuelle Revolution« der 1960er.
Eine ARD-Dokumentation (»Kinder der sexuellen Revolution«) über die Auswirkungen der 68er und ihr Streben nach sexueller Befreiung und Selbstverwirklichung betont, wie sich VertreterInnen der Folgegeneration angesichts des – bei allem Verständnis – als doch sehr selbstbezogen empfundenen Verhaltens der Eltern (vor allem der Mütter) nach stabilen monogamen Beziehungen und in der Dokumentation selbst als bürgerlich bezeichneten Werten sehnen und nun den eigenen Kindern wiederum den Halt und die Sicherheit geben möchten, die ihnen gefehlt haben.
Der gesellschaftliche Status von Lust und Begehren ist nicht eindeutig; dass die Sexualität tatsächlich »befreit« wurde, scheint aber allgemein anerkannt zu sein. Zu den daraus entstandenen Möglichkeiten und Problemen kann man sich aus den verschiedenen Zeitungen, ihren Online-Ausgaben, den sich dort sammelnden Kommentaren und verlinkten Blogs die zur eigenen Lebenssituation passende Ansicht heraussuchen. Die Welt ist bunt und es stehen alle Möglichkeiten offen. Es scheint, als lasse sich die sexuelle Identität zusammenstellen wie ein Wunschmüsli – irgendwo zwischen Polyamorie und No-Sex-Bewegung findet man schon seinen Platz.
Dass sich die Sexualmoral von einer Tabuisierung bestimmter sexueller Praktiken in eine Verhandlungsmoral gewandelt hat, wurde von Gunter Schmidt schon in den 1990ern festgestellt – konkrete Praktiken geben nicht mehr Anlass zur Empörung, der Erfolg von »Shades of Grey« ist vielleicht ein Beispiel dafür. Die moralische Legitimation der Praktiken hat zur Voraussetzung, dass über sie von den »Sexualpartnern« gleichberechtigt und einvernehmlich bestimmt wurde. Diese Verschiebung bedeutete erst einmal eine Liberalisierung, die sich positiv auf die Situation von Nicht-Heterosexuellen ausgewirkt hat. Die Verhandlungsmoral bildet bislang jedoch nur in den westlichen Staaten den Status quo der Sexualmoral. Dass die Repression von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Transsexuellen, Transgender und Intersexuellen weltweit nicht abnimmt, sondern teilweise eine gesetzliche Etablierung und Verschärfung von deren systematischer Verfolgung stattfindet, stellt Moritz Strickert in seinem Text in dieser Ausgabe dar.
Aber auch hierzulande gibt es sexualkonservative Strömungen, die sich eindeutig in Opposition zu gesellschaftlichen Liberalisierungstendenzen stellen. Jüngstes Beispiel dafür, dass es sich hierbei nicht um eine unbedeutende Minorität handelt, sind die reaktionären Massenproteste in Baden-Württemberg gegen die Pläne der dortigen rot-grünen Landesregierung, die Akzeptanz sexueller Vielfalt in den Bildungsplan für die Schulen 2015 aufzunehmen. Anstoß nahm ein Bündnis aus evangelikalen Organisationen, rechtspopulistischen Gruppierungen wie Politically Incorrect und der AfD, sowie konservativen Elternverbänden, unterstützt von Teilen der beiden Oppositionsparteien CDU und FDP, an diesem Plan, da er einen Angriff auf die Werte von Ehe und Familie und eine Gefährdung der Kinder und Jugendlichen darstelle. In der Petition gegen den Bildungsplan, die von fast 200.000 Menschen unterzeichnet wurde, sind dann auch Passagen wie diese zu lesen: »Die LSBTTIQ-Gruppen propagieren die Thematisierung verschiedener Sexualpraktiken in der Schule als neue Normalität und stehen damit in einem krassen Gegensatz zur bisherigen Gesundheitserziehung. In »Verankerung der Leitprinzipien« fehlt komplett die ethische Reflexion der negativen Begleiterscheinungen eines LSBTTIQ-Lebensstils, wie die höhere Suizidgefährdung unter homosexuellen Jugendlichen, die erhöhte Anfälligkeit für Alkohol und Drogen, die auffällige hohe HIV-Infektionsrate bei homosexuellen Männern (...), die deutlich geringere Lebenserwartung homo- und bisexueller Männer, das ausgeprägte Risiko psychischer Erkrankungen bei homosexuell lebenden Frauen und Männern.« (www.openpetion.de/petition/online/zukunft-verantwortung-lernen-kein-bildungsplan-2015-unter-der-ideologie-des-regenbogens). In der Vorstellung dieser Protestbewegung finden sich altbekannte Motive, wie die von den Homosexuellen, die andere mit ihrer Homosexualität anstecken könnten und die Jugend vom Pfad der »normalen« sexuellen Entwicklung, die in Heterosexualität, Ehe und Familie münde, abbringen würden. Mag es sich bei diesen Protesten auch um einen besonders reaktionären Backlash handeln, so findet sich hier jedoch ein ähnliches Bild, wie es auch für die hegemoniale Sexualmoral kennzeichnend ist, nämlich eine Vorstellung von kindlicher Unschuld und Asexualität und deren Gefährdung.
Dieses Bild ist mit einem zunehmenden Gefühl der überall lauernden Bedrohung durch pädophile Straftäter verknüpft, was als Folge der seit den 1980ern veränderten Sexualmoral, als im Wesentlichen Verhandlungsmoral, gedeutet werden kann. Wie es sich mit der Transformation der Sexualmoral im postnazisistischen Deutschland verhält und inwiefern das Bild des unschuldigen, asexuellen Kindes mit einer Entkoppelung des Sexuellen vom Diskurs der deutschen Vergangenheitsbewältigung seit den 1980ern interferiert, untersucht Sonja Witte. Diese Wandlung der Sexualmoral hat auch eine Verschiebung in den Bereichen der Sexualität, die als pervers gelten, gezeitigt. Unterlaufen Sexualpraktiken nämlich die Maßgabe der Abstimmung zweier gleichberechtigter Willen, so gelten sie weiterhin als pervers und werden heute mit mehr Verve beobachtet und verfolgt als zuvor. Dass hierbei der pädophile Kinderschänder als vorrangige Gefahr angesehen wird, der eine allgegenwärtige Bedrohung kindlicher Unschuld und Asexualität verkörpere, hat weniger mit einem Schutz der Kinder vor Missbrauch zu tun, ist doch nur eine Minderzahl sexueller Übergriffe gegen Kinder pädophil motiviert. Häufig sind das Machtgefälle und die einfache Verfügbarkeit bedeutsame Faktoren, gerade bei innerfamiliärem Kindesmissbrauch; die Täter haben jedoch keine primäre sexuelle Präferenz für Kinder, wie dies für Pädophile gilt. Die Panik vor Kinderschändern stellt vielmehr ein Symptom der Verdrängung von Aspekten des sexuellen Begehrens dar, die aus der Verhandlungsmoral ausgeschlossen sind: Nämlich jene, in denen Lust und Absicht nicht übereinstimmen. So wird die Panik vor Pädophilen und ihre Verfolgung zur Ersatzlust, indem »eine durch Norm der Unschuld konstituierte Projektionsfläche einer – aufgrund der Abwehr von Erfahrungen der Inkongruenz von Absicht und Lust – als fremd und äußerlich erscheinenden ›eigenen‹ Sexualität, die nicht Lust, sondern Abscheu erregt und in dieser Form genossen wird.« (Witte, Vom Wandel der Unschuld) Die illegitime Gleichsetzung von pädophiler Neigung und tatsächlich vollzogenem sexuellen Kindesmissbrauch ist auch eine wesentliche Ursache für die Leidenschaft mit der in der politischen und medialen Öffentlichkeit die Edathy-Affäre diskutiert wurde.
Weniger Diskussionen um einen sinnvollen Umgang mit Menschen mit pädophilen Neigungen oder nachhaltige Therapiemöglichkeiten pädophiler Straftäter noch ein wirkungsvoller Schutz von Kindern vor sexuellen Übergriffen stehen dabei im Vordergrund, sondern eine erregte Beschäftigung der Erwachsenenwelt mit sich selber. »Das universale, begründete Schuldgefühl der Erwachsenenwelt kann, als seines Gegenbilds und Refugiums, dessen nicht entraten, was sie die Unschuld der Kinder nennen, und diese zu verteidigen, ist ihnen jedes Mittel recht.« (Adorno, Sexualtabu und Recht heute, in: GS Bd. 10.2, S.544)
Abzulesen ist dies auch an der schnellen Verlagerung der öffentlichen Diskussion von der Missbrauchsdebatte, in der die massenhaften körperlichen und sexuellen Übergriffe gegen Kinder und Jugendliche in kirchlichen, staatlichen und privaten Bildungs- und Verwahrinstitutionen bis in die 1980er öffentlich gemacht wurden, zu der Debatte um die Unterstützung von Pädophilen bei den Grünen und in der Kinderladenbewegung der 1970/80er. Ging es bei der Anprangerung des Missbrauchs in den Institutionen tatsächlich kurze Zeit um Fragen des sinnvollen Umgangs mit echten Tätern und Opfern und darum, wie Institutionen den Missbrauch gedeckt und hervorgerufen haben, so wurde in der Debatte um die Grünen und Kinderläden vor allem betont, dass wir alle zu naiv und zu wenig wachsam waren, um die unter dem Deckmantel einer vorgeblich emanzipatorischen Erziehung lauernden pädophilen Strebungen zu erkennen und zu bekämpfen. Logischer Schluss der Debatte ist dann, heute könnten wir dies erkennen und müssten weiterhin wachsam sein. So schließt sich der Kreis und man ist wieder bei der »Sexuellen Revolution« der 68er, die weniger eine fortschrittliche Kindeserziehung denn den Kindesmissbrauch befördert habe.
Der eklige Versuch von Alice Schwarzer, Pädophilie wiederum mit Prostitution zu parallelisieren (http://www.aliceschwarzer.de/artikel/prostitution-und-paedophilie-312893), charakterisiert treffend den »Feminismus«, der in der Debatte um die rechtliche Stellung der Prostitution in Deutschland wirksam ist, über die Theodora Becker schreibt. Dass zwischen dem ökonomischen Druck, der zu der Entscheidung führen kann, sich zu prostituieren – ein Umstand, der vor allem Frauen betrifft – und tätlichem Zwang zur Prostitution nicht differenziert wird und Prostituierte pauschal zu Opfern erklärt werden, reproduziert die patriarchale Vorstellung der unmündigen und abhängigen Frau. Und es bedeutet vor allem eine Verharmlosung von Verschleppung und Sklaverei, die aber von den ProstitutionsgegnerInnen gerne in Kauf genommen wird: Unter Absehung von allen Unterschieden können so nämlich alle zusammen den Verkauf der »Ware Frau«, oder, noch eigentlich genauer, der »Ware Mensch« beklagen und sich dagegen engagieren, ohne sich mit der Realität konfrontieren zu müssen, in der »Machtgefälle... zwischen (zahlenden) Männern und (bezahlten) Frauen« nicht nur wesentlich andere sind als die »zwischen Erwachsenen und Kindern« (Schwarzer), sondern darüber hinaus als Ausdruck kapitalistischer Vergesellschaftung nicht einfach verschwinden, wenn Sex nicht mehr legal käuflich ist.
Aber nicht nur bei Alice Schwarzer und ihrer Emma rufen gewisse Fragen zu Sexualität einen Unwillen hervor, zu differenzieren oder sich einer Kritik zu stellen, die den eigenen – nicht selten identitätsstiftenden – Ansatz in Frage stellt. Ob Definitionsmacht als Konzept zum Umgang mit sexualisierter Gewalt Frauen tatsächlich von ihrem Opferstatus befreit oder diesen eher noch verfestigt, oder inwieweit der Begriff der Vergewaltigung entleert und die tatsächliche relativiert wird, warum das Konzept in der Linken als sakrosankt gilt, diese Fragen sollen nicht gestellt werden. Wer das Konzept der Definitionsmacht grundsätzlich hinterfragt, gilt in letzter Konsequenz als TäterschützerIn oder verharmlose Vergewaltigungen. Das Extrablatt lehnt den Kurzschluss von der Kritik an der Definitionsmacht mit der Verharmlosung von Vergewaltigungen ab. Wir veranstalteten deshalb im Jahr 2009 mit der Antinationalen Gruppe Bremen einen Vortrag der Gruppe Les Madeleines zur Kritik an der Definitionsmacht. Für diese Unterstützung, also für die Befürwortung, auch in der Linken unhinterfragte Tabus zu kritisieren, wurde uns die regelmäßige Nutzung des Infoladens Bremen für unsere Treffen verwehrt, wobei auf jegliche Argumentation verzichtet wurde. Abgespeist wurden wir damit, dass man »Bauchschmerzen« mit unseren Positionen habe. Das Plenum des Infoladens kann also mit dem Bauch nicht nur denken, es ist den dort Versammelten sogar möglich, aus Bauchschmerzen, wie sie uns schrieben, »auch einen Beschluss ableiten zu können«, was auch »ganz bestimmt keine Willkür« sei. Warum für die Gruppe Les Madeleines die Beschäftigung mit der Definitionsmacht sinnlos geworden ist, erklären sie in ihrem Text in dieser Ausgabe.
Nach dem Motto »alle doof, außer wir« hat sich die Zeitschrift Bahamas in den letzten Jahren von so ziemlich allem abgegrenzt, was nicht Bahamas ist. Konkret etwa ist schon vor Jahren in Ungnade gefallen, während die Jungle World für die Bahamas unter aller Kritik ist. Zuletzt folgten die beiden verbliebenen Zeitschriften, mit denen die Berliner noch Annoncen getauscht hatten: die Prodomo und wir, das Extrablatt. Wie sie im Editorial ihrer 66. Ausgabe gewohnt bedeutungsschwer proklamiert hat, nimmt die Bahamas fortan keine Austauschanzeigen mehr ins Blatt; Bahamas-LeserInnen könnten sonst ja auf die falsche Idee kommen, ihre Redaktion würde gutheißen, was in den beworbenen Blättern steht. Zur Begründung zitiert die Bahamas unser letztes Editorial, in dem wir aus den (in derselben Ausgabe erschienenen) »Thesen zu Materialismus und Tod« der Madeleines zitierten: »Nur utopisch, nicht als unendliche Verlängerung des Ist-Zustands, ist die Überwindung des Todes zu denken.« Daraufhin sprachen wir – verknappt und dadurch zumindest missverständlich – von Auschwitz als »Versuch dieser unendlichen Verlängerung«, der »als Liebe zum Stillstand« fortwirke. Nicht weniger als ein »Anschlag auf Sprache und Denken« würden diese Sätze darstellen, so das Urteil der Bahamas, das sie selbst offenbar für selbstevident hält. Für alle, deren Sprach- und Denkvermögen derlei Angriffen standhält, stehen die Texte zum Nachlesen auf unserer Website bereit. Auch in dieser Ausgabe führen wir die theoretische Auseinandersetzung mit dem Tod weiter, aufgrund deren die Bahamas beim Extrablatt perverse, nämlich nekrophile Neigungen diagnostiziert. Ergänzt wird der Schwerpunkt um einen Text von Melanie Babenhauserheide zur Ideologie des Todes in der Kinder- und Jugendliteratur sowie mit Bildern aus dem Fotoessay »Future History« von Eiko Grimberg, in welchem er sich mit der faschistischen Architektur Italiens beschäftigt.
Wie immer aus Gründen gegen fast alles:
Die Extrablatt-Redaktion
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