Todes-Folgen
Einige Beobachtungen zum Tod in Six Feet Under
Und ob Rauchen tödlich sein kann: Weil er nach den Zigaretten im Handschuhfach greift, kollidiert der Bestattungsunternehmer Nathaniel Fisher senior am Steuer seines Leichenwagens mit einem Linienbus. Hiervon ausgehend erzählt die Fernsehserie Six Feet Under, die zwischen 2001 und 2005 vom amerikanischen Pay-TV-Sender HBO ausgestrahlt wurde, wie die Fishers – Ruth, Nathaniels Witwe, ihre Kinder Nathaniel, Jr. (genannt Nate), David und Claire sowie Federico, der einzige Angestellte des Familienunternehmens – ihr Zusammen- und Liebesleben gestalten.1 Über 63 Folgen hinweg entspinnt sich eine Familiensaga, in der Ruth nach Beziehungen mit ihrem Friseur und einem Blumenhändler, einer zweiten Ehe mit dem (sich als psychotisch erweisenden) Geologen George zu ihrer Unabhängigkeit finden wird. David lernt zunächst zu seiner Homosexualität zu stehen und mit Keith, der Liebe seines Lebens, die Schwierigkeiten des Zusammenlebens zu meistern. Claire geht als jüngstes Kind anfangs noch zur Highschool und entwickelt allmählich immer ernstere künstlerische Ambitionen. Nach mehreren gescheiterten Beziehungen findet sie (als Anti-Golfkriegsaktivistin) im republikanischen Rechtsanwalt Ted ihren Partner. Nate, der älteste Sohn, war ursprünglich nur für einen Weihnachtsbesuch aus Seattle (wo er bei einer Biolebensmittelkooperative tätig war) zu seiner Familie nach Los Angeles zurückgekehrt, tritt dann doch an der Seite seines Bruders – zunächst widerwillig – das Erbe im familieneigenen Funeral Home Fisher & Sons an. Seine beiden Beziehungen mit Brenda (hochbegabte Tochter eines Psychiater-Ehepaars, die zunächst als Shiatsu-Masseurin arbeitet, dann selbst Therapeutin wird) werden zerbrechen, seine zwischenzeitliche Ehe mit Lisa endet durch Lisas Tod (ohne den allerdings eine Trennung unausweichlich schien).
Serialität
Im klassischen wöchentlichen Serienformat sind Handlung und Zeit zyklisch. Wenn im Krimi der Täter gefasst und sein Mord aufgeklärt ist, wenn in der Sitcom der Familienfriede wiedergefunden wurde und in beiden Fällen die Ordnung wiederhergestellt ist, dann sind die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass es nächste Woche von vorn losgehen kann. Besagtes Prinzip haben The Simpsons auf die Spitze und damit in die Absurdität getrieben, indem irgendwann aufgegeben wurde, Erklärungen dafür zu bieten, warum Homer, nachdem er bereits hunderte verschiedene Jobs (Astronaut, Schneepflugfahrer, Paparazzo, Glückskekstexter, Polizist u.v.m.) ausgeübt hat, beim nächsten Mal doch wieder im Atomkraftwerk arbeitet.2 Mit der dauernden Wiederkehr des Zyklischen bricht der Tod einer Figur:3 Auch wenn alles andere wieder auf null gesetzt wird, ist Maude Flanders aus der Simpsons-Welt ebenso unwiederbringlich verschwunden wie Tasha Yar aus dem Star Trek-Universum. In Umkehrung dieses Prinzips, nachdem zuvorderst der Tod Kontinuität stiftet, weil nur er über das Ende einer einzelnen Folge hinausweist, ist in Six Feet Under allein der Tod seriell, während die Geschichte der Fishers als Fortsetzungsgeschichte in weiten und nie innerhalb einer Folge abgeschlossenen Bögen erzählt wird.
So wie der Serie als ganzer Nathaniel Fishers tödlicher Unfall vorangestellt ist, wird jede weitere Folge in der Eingangssequenz mit einem Todesfall eingeleitet, auf den eine Texteinblendung mit Namen und Lebensdaten folgt. Durch die Serialität des Sterbens ergibt sich am Ende der fünf Staffeln ein Panorama möglicher Todesumstände, das Unfälle, Verbrechen, Suizide, Krankheit und Alter umfasst. Darunter sind die ungewöhnlichen, mitunter skurrilen Unfälle, die die Serie dann wie eine Verfilmung der Darwin-Awards anmuten lässt, prominent vertreten. So wird, um einige Beispiele zu nennen, Thomas Alfredo Romano (1944 – 2001) beim Reinigen eines riesigen Mixers von diesem in Stücke gehäckselt, weil sein Kollege versehentlich den Schalter betätigt; Samuel Wayne Hoviak (1965 – 2004) schafft es, von seinem eigenen SUV überfahren zu werden, weil er beim Griff nach der Zeitung, die in der Hauseinfahrt liegt, aus seinem Auto fällt. In gleicher Lakonie wird auch Jonathan Arthur Hanleys Tod (1946 – 2001) erzählt – er wird von seiner Ehefrau hinterrücks mit der Bratpfanne erschlagen, während er sie mit einer Geschichte von seiner Arbeit traktiert; Als Motiv wird sie später angeben, dass er sie gelangweilt habe. Andere Tode haben hingegen nichts Komisches an sich. Die Gewaltverbrechen an Manuel Pedro Antonio Bolin (1980 – 2001), genannt Paco, oder Marcus Foster, Jr. (1978 – 2001) werden in brutaler Drastik gezeigt: Mitglieder einer rivalisierenden Gang erschießen Paco, als er in deren Territorium eine Telefonzelle benutzt, Foster wird mit seinem Freund auf der Straße von homophoben Schlägern angegriffen und schließlich zu Tode geprügelt.
Sinn des Todes
Meistens begegnen die, die am Anfang einer Six Feet Under-Folge dran glauben müssen, den Fishers und damit dem Publikum als Fremde. Da sie also nur lose (als Trauerfall) mit dem Serienplot verbunden sind, erscheint der Tod im Modus der Serialität als Zufälliges und Plötzliches, jedenfalls nicht als etwas, das sich die Opfer im Verlauf der bisherigen Handlung verdient hätten. »The message is that we die«, hat Alan Ball, der Schöpfer der Serie, über sie gesagt. »And sometimes we die in the middle of messy things in our lives. Death doesn’t wait until you take care of all your issues.«4 Mit der Betonung der Unrechtzeitigkeit des Sterbens scheint Six Feet Under sich gegenüber dem pseudotragischen Sinn zu sperren, den der fiktionale Tod so oft hat: als edles oder schuldbewusstes Selbstopfer oder als Strafe für Verfehlungen, die am Einzelnen die edle Moral oder den höheren Zweck exekutiert. Das ist, worauf Tragik5 Horkheimer und Adorno zufolge in der Kulturindustrie reduziert wird, auf die Drohung nämlich, »den zu vernichten, der nicht mitmacht, während ihr [d.i. die Tragik, dw] paradoxer Sinn einmal im hoffnungslosen Widerstand gegen die mythische Drohung bestand. Das tragische Schicksal geht in die gerechte Strafe über, in die es zu transformieren seit je die Sehnsucht der bürgerlichen Ästhetik war.«6 Seinen Einsatz als gerechte Strafe hat der Tod normalerweise an der Stelle, an der die tragische Katastrophe im klassischen Drama steht, dessen überkommene Handlungsstruktur populäre Kino- und Fernseherzählungen in immer neuer Monotonie variieren.
Diesem Gestaltungs- und Sinngebungsprinzip folgt der Todesfall eines oder einer Unbekannten, der der Episodenhandlung vorangestellt ist, augenscheinlich nicht. Gleichwohl ist der Tod auch in Six Feet Under nicht einfach sinnlos. Dass er zumindest notwendig ist, hat die deutsche Übersetzung im Titelzusatz »Gestorben wird immer« zusammengefasst, denn nur so ist das wirtschaftliche Fortbestehen des Familien-Bestattungsunternehmens gesichert. Im Verlauf der jeweiligen Episode richten Fisher & Sons Trauerfeier und Bestattung der anfangs Gestorbenen aus, die uns folglich als Leichen auf dem Präparationstisch und im offenen Sarg wiederbegegnen. Und weil Menschen auf vielfältige Weisen sterben, ihr Sterben immer auch auf einen – vielleicht wesentlichen, vielleicht unwesentlichen – Aspekt ihres Lebens verweist,7 verknüpfen sich die Todesumstände immer wieder mit Problemen und Auseinandersetzungen, die die Hauptfiguren der Serie gerade austragen. Insbesondere in den ersten zwei Staffeln fungiert der einleitende Todesfall als mal mehr, mal weniger explizites thematisches Motto für die jeweilige Folge. So führt Marcus Fosters gewaltsamer Tod bei David, dem jüngeren Fisher-Sohn, zu einer Auseinandersetzung mit seiner eigenen, bisher gegenüber seiner Mutter verheimlichten Homosexualität und schließlich zum Coming-Out ihr gegenüber – und dazu, dass er homophobe Anfeindungen nicht mehr, wie vorher, defensiv über sich ergehen lässt: Einem christlichen Schwulenhasser, der mit anderen auf Fosters Beerdigung seine Freude über dessen Tod kundtut, antwortet David nun mit zwei rechten Haken. Nach dem Gang-Mord an ›Paco‹ Bolin am Anfang der Folge »Familia« wird Federico mit seiner Latino-Identität konfrontiert – und mit den Vorurteilen, die auch gutmeinende Menschen wie die Fisher-Brüder haben können. Sie wollen, dass ihr Angestellter zwischen der Familie und der Gang des Mordopfers vermittelt, bringen ihn also aufgrund seiner Herkunft mit dem (mexikanischen) Bandenwesen in Verbindung, wobei sich herausstellt, wie wenig sie über ihn und sein Familie wissen8. Hier ist die Tatsache, dass Six Feet Under in einem Funeral Home spielt, auch ein erzählerischer Kniff, der der Serie erlaubt, mehr als eine reine Familiensaga zu sein. Todesfälle wie die von Marcus Foster und ›Paco‹ Bolin verweisen auf übergreifende gesellschaftliche Konflikte, die über innerfamiliäre Auseinandersetzungen hinausweisen. In diesem Sinne hat der Tod eine vergesellschaftende Funktion – für die Fishers als Anbieter der Waren Bestattung und Trauerbegleitung.
Suspense und Gespenster
Durch die Serialität des Sterbens weiß, wer einige Six Feet Under-Folgen gesehen hat, dass die Eingangssequenz für eine der Personen im Bild tödlich enden wird. Anders als diese weiß das Publikum um die Unausweichlichkeit eines baldigen Todesfalls, es weiß bloß noch nicht, wie er eintreten wird und wen genau es treffen wird. Damit sind beste Voraussetzungen für Suspense und Überraschung9, für das Spiel mit Publikumserwartungen geschaffen, die dann auch ein ums andere Mal übertroffen oder enttäuscht werden. Wenn ein Mann mittleren Alters, der mit brennendem Streichholz am Gasherd hantiert, durch einen Telefonanruf gestört wird, wenn ein Nordic Walker anhält, um seinen Puls zu fühlen, wenn zwei Bauarbeiter in luftiger Höhe auf einem Stahlträger Frühstückspause machen, dann sind eine Gasexplosion, ein Herzanfall bzw. ein tödlicher Sturz zu erwarten. Stattdessen läuft in dem Callcenter, aus dem der störende Anruf kommt, ein gekündigter Mitarbeiter Amok, er erschießt drei Angestellte und am Schluss sich selbst; der Freizeitsportler wird von einem wilden Puma angefallen; einem der Arbeiter fällt seine metallene Brotdose herunter, die unten einen Passanten erschlägt. Manchmal ist es, wie bei Samuel Wayne Hoviak, der sich selbst überfährt, bloße Tollpatschigkeit, die einen umbringt. Das Publikum sieht das Unglück kommen, allerdings löst sich in diesen Beispielen der Suspense in Überraschung auf: über die Skurrilität der Todesumstände oder eben darüber, dass es jemand ganz anderen als ursprünglich angenommen trifft. (Hierin liegt ein Gutteil des schwarzen Humors begründet, der Six Feet Under nach Einschätzung vieler auszeichnet – was freilich nicht heißt, dass laut Six Feet Under der Tod eine lustige Angelegenheit wäre, wenngleich diese Szenen von der Absurdität handeln, dass eine Ungeschicklichkeit, eine Zufallsbegegnung ausreichen, um ein menschliches Leben zu beenden.) Der Suspense, der sich aus dem Modus des Seriellen, dem Wissen um den stets tödlichen Ausgang der Eröffnungssequenz speist (nicht aus Kameratechnik wie im Hitchcock-Thriller), wird also nicht in die episodische und ergebnisoffene Haupthandlung überführt, die wiederum ihre Spannung aus interpersonellen Konflikten bezieht.
Erst recht unbehaglich wird es, wenn sich beide Erzählweisen überschneiden, d.h. wenn plötzlich Personen aus dem Umkreis des bekannten Personals in der Eingangssequenz zu sehen sind. Denn wie angedeutet, sind nicht alle, die am Anfang einer Six Feet Under-Folge sterben müssen, Fremde für die Fishers und das Publikum. So erschießt sich Anthony Christopher Finelli (1994 – 2001), der kleine Bruder von Claires Highschoolfreund Gabe, beim Spielen mit einem Revolver, während dieser auf ihn aufpassen sollte, Brendas Vater Bernard Asa Chenowith (1939 – 2003) erliegt seiner Krebserkrankung. Klar ist, dass diese Todesfälle dann nicht mehr nur thematische Mottos darstellen, sondern als Einschnitte in der Serienerzählung über das Ende einer Folge hinaus wirksam sind. Mit der Unausweichlichkeit des obligatorischen Todesfalls zum Folgenbeginn bricht die Serie an einer einzigen Stelle, als nämlich mit Nate Fisher eine der Hauptfiguren als zu erwartendes Todesopfer präsentiert wird. Die erste Folge der dritten Staffel beginnt damit, dass er am Gehirn operiert wird, es kommt zu Komplikationen. Sogar die weiße Texteinblendung mit Namen und Lebensdaten (1965 – 2002) folgt, nur dass dieses eine Mal das Todesdatum in einer späteren Einblendung wieder gelöscht wird. Der Bruch mit einem zentralen erzählerischen Prinzip bestärkt den Eindruck des Noch-einmal-davongekommen-Seins, das sich allerdings als bloßer Aufschub erweisen wird.
So wie Nate hier als zu wichtig erscheint, als dass man ihn einfach sterben lassen könnte, so zeigt sich, dass (für die Protagonisten) manche Todesfälle bedeutsamer sind als andere, daran, dass einige der Gestorbenen erhalten bleiben: als geisterhafte DialogpartnerInnen der Lebenden. Auch Nate ist in einer surrealistischen Sequenz als ›Geist‹ im Zwiegespräch mit seinem verstorbenen Vater zu sehen, bevor der glückliche Ausgang der Operation enthüllt wird. Darin beobachten die beiden verschiedene Wege, die Nate hätte nehmen können: in ein Leben an der Seite Brendas, mit Lisa oder als Kiffer, der seine Tage vor dem Fernseher verbringt. Dass die Toten den Lebenden mitunter als Geister wiederbegegnen, ist zu diesem Zeitpunkt bereits als wiederkehrendes stilistisches Mittel bekannt, das zweite, das die Erzählweise der Serie auszeichnet. Trotz seinem Tod in der ersten Folge bleibt Nathaniel senior der Serie auf diese Weise bis zum Ende erhalten (ebenso wie später Lisa), und immer wieder suchen die Leichen das Gespräch mit David, während er sie einbalsamiert. Hier nimmt die Serie Anleihen beim Horrorgenre, ohne dass diese Szenen selbst Szenen des Horrors wären. Denn die Toten kehren nicht aus dem Jenseits wieder, um die Lebenden zu sich zu holen;10 vielmehr kommen sie aus der Vorstellungswelt der Lebenden. Schnell wird klar, dass es sich bei diesen Dialogen um innere Auseinandersetzungen der Lebenden handelt. Die gesprächigen Toten sind nur solange zu sehen, wie die Kamera den Blick einer Person einnimmt, sobald jemand zweites die Szenerie betritt verschwinden sie. Und dass es auf die Toten projizierte Ängste und Zweifel sind, die in diesen Dialogen Ausdruck finden, daran erinnern sie mitunter selbst: Auf Claires Frage, ob er wütend sei auf Ruth (seine Witwe), weil sie erneut heiratet, antwortet Nathaniel: »Nah. That’s you«11, nicht er, sondern sie, Claire, sei es, die wütend ist. Diese Wiedergänger sind eher gemein als unheimlich, sie erinnern an enttäuschte Erwartungen, weisen gnadenlos auf Schwächen und Unsicherheiten hin. Dabei ist Marc Foster eine Ausnahme von der Regel, dass es Verstorbene aus dem Umkreis der ProtagonistInnen sind, die über ›ihre‹ Folge hinweg als imaginäre Geister erscheinen, was an der einschneidenden und aufwühlenden Wirkung liegt, die sein gewaltsamer Tod für David hat. Aus seinem Geist sprechen Davids Gefühle des Selbsthasses, die ihn als Schwulen zu diesem Zeitpunkt plagen, der zugleich das am stärksten religiöse der Fisher-Kinder ist.
Sinn des Lebens
Die Figuren in Six Feet Under als einer Serie über eine trauernde amerikanische Familie, die eben im grief management business tätig ist,12 werden vom Tod und den Toten um sie herum permanent an die eigene Vergänglichkeit erinnert. Das kann zum Verzweifeln sein, (in Brendas Worten: »Everybody dies, we all die, everything we ever care about will disappear, so what’s the fucking point of living?”), ist den Protagonisten letztlich aber der Antrieb dafür, dem eigenen Leben in der Zeit, die man hat, Bedeutung zu geben. Auf die Frage, warum Menschen sterben müssen, antwortet Nate: »To make life important. None of us know how long we’ve got. Which is why we have to make each day matter.«13 Was freilich leichter gesagt als getan ist, gerade für Nate, der in seinem Streben nach Glück ein ewig Suchender und Scheiternder ist: Seine zwei Beziehungen mit Brenda zerbrechen, weil mal sie, mal er im Sex mit anderen etwas suchen, dass sie in der Partnerschaft offenbar nicht finden, während die Ehe mit Lisa an einem Zuviel an Harmonie leidet. In der Frage, ob er als Bestatter im familieneigenen Funeral Home arbeiten will, ist er ebenso unstet wie in sogenannten spirituellen Dingen, mal sucht er Antworten im Judentum (in Gestalt der Rabbinerin Ari), dann teilt er Lisas Hang zur hippiesken Esoterik und schließlich sucht er sein Heil im Quäkertum, das seine Stiefschwester (und letzte Affäre) Maggie im nahebringt.
Der bedrückenden Präsenz des Todes, die durch die Anwesenheit imaginierter Untoter, die einen dauernd mit den eigenen Ängsten piesacken, noch unterstrichen wird, suchen Nate und die anderen Hauptfiguren vor allem im Sex zu entfliehen. In Alan Balls Worten: »It’s Nate with his womanizing – it’s Claire and her sexual experimentation – it’s Brenda’s sexual compulsiveness – it’s David having sex with a male hooker in public – it’s Ruth having several affairs – it’s the life force trying to push up through all of that suffering and grief and depression.«14 Ein Ausweg, der sich allerdings als umso todesverfallener erweist, wenn etwa David befürchten muss, sich dabei mit HIV infiziert zu haben. Gewissermaßen schwanken die ProtoganistInnen zwischen zwei Polen, die sich mit dem Tod als Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens, die Terry Eagleton gibt, decken: »[E]in Leben im Bewusstsein der Sterblichkeit zu führen heißt, mit Realismus, Ironie, Wahrhaftigkeit und einem heilsamen Sinn für unsere Endlichkeit zu leben.«15 Das Gegenteil hiervon sei das carpe-diem-Rezept, »eine verzweifelte Strategie zur Überlistung des Todes, eher ein sinnloser Versuch, ihn übers Ohr zu hauen, als etwas aus dem Leben zu machen. In ihrem hektischen Hedonismus erweist sie dem Tod gerade da eine Reverenz, wo sie ihn eigentlich zu verleugnen sucht.«16 Auf der Flucht in schnellen Sex, kurzfristige Beziehungen oder in immer neue religiöse Sinnangebote erscheint das Leben fragmentarisch, auch wenn die Erzählweise eine kontinuierliche ist. Kontinuität finden die Protagonisten, die sich darauf einlassen, dann am Ende in einer – veränderten – Familienkonstellation.
Es ist Nathaniels Tod am Anfang der Serienhandlung, der die Fishers dazu bringt, ihr Zusammenleben umzugestalten. Insofern scheint es naheliegend, in ihm ein Bild für das Ende patriarchaler Familienmodelle zu sehen,17 auch wenn diese Deutung in ihrer Eindeutigkeit nicht ganz aufgeht (als würde schon das Überrollt-Werden des Familienvaters zu einer postpatriarchalen Konstellation führen). Aber tatsächlich nutzt beispielsweise Ruth nach 35 Jahren Ehe ihre Ungebundenheit dazu, ihre, wie Claire es ausdrückt, »sexual twenties« nachzuholen. Darüber emanzipiert sich Ruth Stück für Stück von den Männern, die sie kennenlernt, um am Ende in einer Phantasie zunächst ihre Affären und Beziehungen nach Nathaniels Tod und schließlich auch ihn mit einer Pump-Gun niederzustrecken. Das klassische Serial ist am kleinbürgerlichen Ideal von ehelicher Partnerschaft bis zum Tod und der Vollzeitstelle bis zum Rentenalter orientiert. Konflikte spielen sich innerhalb dieser Formen ab, die das Leben in feste Bahnen lenken, die Halt bieten, in ihnen soll sich die Frage nach dem Sinn des Ganzen erübrigen. In Six Feet Under stellt sich diese Frage dagegen sehr wohl, sie ergibt sich aus dem Wissen um die eigene Sterblichkeit. Nach den diversen Fluchtversuchen müssen die Hauptfiguren feststellen, dass es ganz ohne Familienstruktur eben doch nicht geht. Nur dass diese am Ende Raum für verschiedene Lebensmodelle bietet: Rico, Vanessa und ihre zwei Kinder führen eine klassische Kleinfamilie, zu der sie nach vorübergehender Trennung zurückfinden; David und Keith versuchen sich zwischenzeitlich an einer offenen Beziehungsform, adoptieren in der letzten Staffel den Achtjährigen Anthony und seinen drei Jahre älteren Bruder Durrell, schließlich werden sie, wie der Ausblick in der letzten Folge zeigt, in naher Zukunft heiraten; Brenda wird nach Nates Tod als alleinerziehende Mutter sowohl für ihre gemeinsame Tochter Willa als auch für Maya sorgen, deren leibliche Eltern Nate und Lisa sind.
Für Horkheimer und Adorno war »das gestörte Verhältnis zu den Toten – daß sie vergessen werden und einbalsamiert – […] eines der Symptome fürs Kranksein der Erfahrung heute. Fast ließe sich sagen, es sei der Begriff des menschlichen Lebens selber, als der Einheit der Geschichte eines Menschen, hinfällig geworden: das Leben des Einzelnen wird bloß noch durch sein Gegenteil, die Vernichtung definiert, hat aber jede Einstimmigkeit, jede Kontinuität der bewussten Erinnerung und des unwillkürlichen Gedächtnisses – den Sinn verloren.«18 In Six Feet Under ergibt sich aus dem Verhältnis zum Tod und zu Toten hingegen die nachgerade existenzialistische Problemstellung: Was tun mit unserem endlichen Dasein? Eine Lösung finden die Fishers und die mit ihnen verbundenen Figuren, indem sie sich zu einer Patchworkfamilie entwickeln. Wo ein paar Jahre vorher die Teen-Horror-Serie Buffy the Vampire Slayer (die ebenfalls in Südkalifornien spielt) Verwandtschaftsbeziehungen durch Freundschaft ersetzt hat, da rettet Six Feet Under Familie als Form des Zusammenlebens, indem sie zu einem pluralen Raum umgebaut wird, der verschiedenen Lebensmodellen Platz bietet. In ihrem finalen Ausblick verrät die Serie, dass die überlebenden Familienmitglieder nicht nur zu einer veränderten Form des Zusammenlebens gefunden haben, sondern auch die Einzelnen für sich von nun an mit den Partnern und den Jobs, die sie zu diesem Zeitpunkt haben, glücklich werden; es verspricht ihnen jene Kontinuität im Leben, die Nate nie findet. Dass er durch einen Schlaganfall stirbt, nachdem er seine schwangere Frau Brenda mit seiner Stiefschwester Maggie betrogen hat, während Claire das längste Leben aller Hauptfiguren erwartet (sie wird 101), nachdem ihre künstlerischen Bestrebungen zwischenzeitlich zu scheitern drohen, ihr ein langweiliger Bürojob droht, sie von einer desaströsen Beziehung in die nächste gerät, fühlt sich dann (entgegen Alan Balls Intention) sehr wohl wie Strafe und Belohnung an. Wenn nicht für sein Handeln, dass unmoralisch erscheinen mag, dann dafür, dass es Nate trotz aller Warnungen und trotz seiner zweiten Chance bis zum Schluss nicht gelingt, sein Leben gemäß seinem eigenen Hinweis so einzurichten, dass er glücklich abtreten könnte.
In Six Feet Under, wo Erwerbsbiographien brüchig und Beziehungen nicht von Dauer sind, stellt sich die Frage, wie Kontinuität und Sinnhaftigkeit ins Leben zu bringen sei, dringlicher als sie es in den Soap Operas und Sitcoms der achtziger und neunziger Jahre getan hat. Vielleicht ist dies das Versprechen des epischen Erzählfernsehens, bei dem die einzelne Folge stets nur ein Kapitel statt eine in sich abgeschlossene Handlung ist, und das Six Feet Under zusammen mit der zwei Jahre älteren Serie The Sopranos geprägt hat: dass sich durch die kontinuierliche Anstrengungen am Ende und vom Ende her betrachtet doch noch Sinn einstellt. Das Versprechen, dass Form und Inhalt zusammenfinden, sich also fragmentarisches Erleben schließlich zu einem sinnvollen Ganzen zusammenfügt, geht selbst serienimmanent nicht ganz auf: Der abschließende Flashforward, der einen Ausblick auf das weitere Leben der Protagonistinnen und Protagonisten bietet, in dem die Konflikte stillgestellt sind, bricht eher mit der Serienhandlung, als dass er sie fortführt, und mit seinen hellkontrastierten Bildern ließe er sich durchaus auch als Sequenz aus dem Jenseits verstehen.
ANMERKUNGEN
1 Wer die Serie noch sehen will, sei gewarnt, jetzt folgen einige Spoiler.
2 Zugleich ist dadurch ausgeschlossen, dass Marge ihn endgültig vor die Tür setzen könnte. Das ist das Konservative am seriellen Prinzip: dass es stets zu seinen Ausgangspunkt zurückkehrt, der nicht nur in diesem Fall Familienkonstellation ist.
3 Dass dort die Regeln des Seriellen nicht vor dem Tod haltmachen, ist der ganze Witz am »Oh my god, they killed Kenny«-Gag in den ersten South Park-Staffeln.
4 Zit. n. Heather Havrilesky, Did Nate Fisher Die for Our Sins?, in: New York Magazine, 14.08.2005, http://nymag.com/nymetro/arts/tv/12445/ (08.08.2012)
5 Um einer Begriffsverwirrung vorzubeugen: Wenn jemand durch einen Autounfall stirbt oder von einem herabfallenden Stein erschlagen wird, dann ist das nicht tragisch, sondern traurig. Mit Tragik ist ein schuldhaftes Verhängnis gemeint, das zum Untergang des Einzelnen führt. Substanz der Tragik war »der Gegensatz des Einzelnen zur Gesellschaft« (Horkheimer/Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt/M., S.162).
6 Ebd., S. 160f.
7 Wie es der Serie immer wieder gelingt, im Moment des Todes sehr viel vom Leben der Sterbenden zu verdichten, ist verglichen mit sonstigem Fernseherzählen durchaus großes Kino. Tod erscheint so zwar nicht als schicksalhaft, durchaus aber als Schicksalsschlag, als Zufall und Unglück, wodurch er wiederum individualisiert wird. Krieg und Krankheit etwa erscheinen so als Einzelschicksale, nicht als Ausdruck gesellschaftlicher Herrschaft oder mangelnder Gesundheitsversorgung.
8 Federico: I’ve worked here for years, and you don’t know a damn thing about me.
David: That’s not true.
Federico: You own an atlas?
David: An atlas?
Federico: Yeah, because if you did, you’d know there’s a 24-hundred-mile difference between Puerto Rico and Mexico.
David: You’re... Puerto Rican...?
Federico: ¡Vete a la mierda cabrón! [übers.: Fick dich, du Arschloch!]
9 »Der Unterschied zwischen Suspense und Überraschung ist sehr einfach, ich habe das oft erklärt. Dennoch werden diese Begriffe in vielen Filmen verwechselt. Wir reden miteinander, vielleicht ist eine Bombe unter dem Tisch, und wir haben eine ganz gewöhnliche Unterhaltung, nichts besonderes [sic!] passiert, und plötzlich, bumm, eine Explosion. Das Publikum ist überrascht, aber die Szene davor war ganz gewöhnlich, ganz uninteressant. Schauen wir jetzt den Suspense an. Die Bombe ist unterm Tisch, und das Publikum weiß es. […] Das Publikum weiß, daß die Bombe um ein Uhr explodieren wird und jetzt ist es 12 Uhr 55 – man sieht eine Uhr . Dieselbe unverfängliche Szene wird plötzlich interessant, weil das Publikum an der Szene teilnimmt. Es möchte den Leuten auf der Leinwand zurufen: Reden Sie nicht über so banale Dinge, unter dem Tisch ist eine Bombe, und gleich wird sie explodieren!« (Alfred Hitchcock im Interview mit François Truffaut in: Mr. Hitchcock, wie haben Sie das gemacht?, München 2010, S. 64)
10 Ob es ein Jenseits gibt, darüber trifft die Serie keine Aussage. Sie schlägt sich in der Pluralität der religiösen Ansichten also auf keine bestimmte Seite: David, Keith und Ruth sind regelmäßige (protestantische) Kirchgänger, Rico ist Katholik, Nate ist die meiste Zeit Agnostiker, Brenda stammt aus einer nichtreligiös-jüdischen Familie.
11 »I’m Sorry, I’m Lost«, 13. Folge der dritten Staffel.
12 So eine treffende Zusammenfassung in der Internet Movie Database (http://www.imdb.com/title/tt0248654/).
13 »Knock, Knock«, 13. Folge der ersten Staffel.
14 DVD-Audiokommentar zur Folge »Everyone’s Waiting« (12. Folge der fünften Staffel).
15 Terry Eagleton, Der Sinn des Lebens, Berlin 2010, S. 131.
16 Ebd., S.132.
17 Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Six_Feet_Under_%E2%80%93_Gestorben_wird_immer#Handlung (08.08.2012)
18 A.a.O., S. 225.
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