»Zwischen dem Ähnlichsten lügt der Schein am schönsten«
Zur Kritik der antiindividualistischen Querfront von antirassistischen SZ-IdeologInnen, Thilo Sarrazin und der islamischen Erweckungsbewegung
»Die zweite Aufklärung aber, die man heute gegen die erste ausspielt, läuft […] bloß auf die Abschaffung der ersten hinaus.« (T.W. Adorno, GS 10.2, S. 534.)
Präludium
Es ist doch stets eine Crux mit der Kritik der bürgerlichen Gesellschaft. Da glaubt man ihre Missstände auf den Begriff bringen und zur Kritik stellen zu können, da sie sich scheinbar eindeutig zeigen, und trägt jäh zu ihnen bei. An dieser scheinbaren Eindeutigkeit des Schlechten scheitert die Kritik. Indem sie die notwendig nicht offenkundige Widersprüchlichkeit der das Schlechte bedingenden Vergesellschaftungsgesetze nicht bedenkt, geht diese als ihre notwendige Hintertreibung in sie ein. Das zeigt sich vor allem im Werk Friedrich Nietzsches: er philosophiert mit dem Hammer, der rigoros zerschmettert, was ihm missfällt und der Menschheit Ungemach ausmache, doch hinterrücks alles, was er verabscheut, nur fester zusammenzimmert. Dadurch also wie Nietzsche versucht die Menschheit »zu neuen Ufern« zu bringen, lässt er sie in ihrem Unglück zurück und zementiert es ideologisch ein.
Nietzsches »Umwertung aller Werte« hält dem Mitleiden, in seinem Sinne Mittel der Herrschaft der Schwachen und größte Torheit der Menschheit, ein »Werdet hart« entgegen und der décadence, der allumfassenden Erschöpfung und Krankheit, das »Schaffen – die grosse Erlösung vom Leiden«1. Doch dem scheinbaren Übel sein Gegenteil abstrakt entgegenzustellen übersieht, dass dieses ebenso zum Übel gehört. Härte schafft den Grund des Mitleids nicht ab, sondern hält ihn fest. Schaffen als selbstzweckhafte Produktivität idealisiert lediglich den Zwang, sich stets ranhalten zu müssen, der die Menschen zur Erschöpfung treibt und krank macht. Solche Kritik bewegt sich im Fetischismus der bürgerlichen Verhältnisse und blamiert sich vor ihrer These, ihrer Zeit voraus zu sein.2
Anders verhält es sich hingegen mit der Kritik Oscar Wildes. Er bringt präzise die bürgerliche Vergesellschaftungsform auf den Begriff und hält daher dem mit dieser Form vermittelten Individualismus nicht abstrakt dessen Negation, die bessere altruistische Gemeinschaft, entgegen, sondern die Befreiung des Individualismus von seiner gewaltvollen Vermittlungsinstanz, dem Privateigentum. Nach dessen Abschaffung, so Wilde, »werden wir den wahren, schönen und gesunden Individualismus haben.«3 Nur darum sei der »Sozialismus von Wert: weil er zum Individualismus führt«4, in welchem jeder einzelne Mensch schön sei. Und das könne er nur in »freiwilligen Vereinigungen«5 und nicht in einer Zwangsgemeinschaft.
Motiv
Als ich im Oktober 2009 anfing die Süddeutsche Zeitung zu beziehen, bereitete es mir eine gewisse Zeit Freude, nach dem Frühstück noch ein wenig in meiner Küche mit einem frischen Kaffe zu verweilen und eben jene frei Haus gelieferte Zeitung zu lesen. Ich war stets gut über den Politalltag informiert ohne mir den ganzen aggressiv geschmacklosen Weltanschaungsbrei von Neues Deutschland und Junge Welt anzutun. Anfang 2010 stellte sich aber leider heraus, dass im Feuilleton der SZ von antirassistischen KritikerInnen der Islamkritik nicht minder schlimme Weltanschauung betrieben wird. Von da an war mein Frühstücksritual so genussvoll wie der Güllegestank an einem ostfriesischen Sommermorgen, dem ich eigentlich entflohen zu sein dachte.
Vorzustellen, was an dem in der SZ Geschriebenen zu jenem Umschlag meiner morgendlichen Befindlichkeit trieb, ist der Inhalt dieses Artikels.
Nach einigen gelesenen Exemplaren fiel mir auf, dass die SZ-AutorInnen in ihrer Kritik der Islamkritik sich nicht überwinden können, auch nur eine kritische Bemerkung über den Islam zu formulieren. So kommt weder islamischer Antisemitismus zur Sprache noch gelangt man zu einer eindeutigen Verurteilung islamistischer Attentate. So musste Kurt Weestergaard nach dem Anschlag auf sein Leben bei Andrian Kreye, Chefideologe des SZ-Feuilletons, lesen: »Wer beleidigt, muss auch zugestehen, dass der Beleidigte beleidigt ist«; der müsste »in Kauf nehmen, dass er Gewalt gegen sich und andere provoziert6«. Die Karikaturen wären so dumm gewesen »wie der Versuch, einen Tiger zu erziehen, in dem man ihm erst ein Schinkenbrot anbietet und es ihm dann wieder wegnimmt«7. Man müsste halt mit den Konsequenzen rechnen, macht man von der Meinungsfreiheit Gebrauch. Das Attentat erfährt keine Verurteilung.
Von Antisemitismus wird in der SZ nur insofern gesprochen, als dass er durch die Gleichsetzung mit »Islamfeindschaft« zu dessen Dämonisierung verhilft, indem man IslamkritikerInnen vorwirft sie planten »Einrichtungen von Ghettos innerhalb von Deutschland«8. Und islamistische Attentate, aber auch gängige barbarische islamische Vorschriften werden stets bloß relativiert – im »Westen« wäre es auch nicht besser, tragen doch auch alte Bäuerinnen in Norddeutschland Kopftuch; unterziehen sich »westlich-konforme« Frauen doch auch Schönheitsoperationen; machten doch auch nur Männer Karriere, Christentum und Judentum wären auch nicht besser9. Man sähe, so unterschieden von islamischen Gegebenheiten wäre das nicht. Auch IslamkritikerInnen wären »Hassprediger«10.
Je intensiver ich mich mit dem Feuilleton der SZ beschäftigte, desto mehr verstärkte sich mein Eindruck, dass die Artikel in der Weise wie diese Respekt für die andere Kultur, für deren Eigenheiten sowie für den Glauben der Muslime einfordern antiindividualistische Momente islamischer Gesellschaften reproduzieren. Daran, wie sie diese Erniedrigung vollziehen, so meine Idee, zeigt sich ihre ideologische Nähe zu ihren rassistischen Gegenspielern im öffentlichen Diskurs über den Islam. Die Argumentation des Antirassismus der SZ lässt sich entgegen ihrer Intention von rassistischen Denkmustern in einigen wesentlichen Punkten nicht mehr recht unterscheiden. Meine Vermutung bestätigte sich als Deutschland schafft sich ab von Thilo Sarrazin erschien. Sein offenkundig rassistisches Denken weist erstaunliche ideologische Überschneidungen mit den im Folgendem von mir verhandelten ›antirassistichen‹ Artikeln der SZ auf. Hier taucht ein Motiv auf, welches in dem Artikel »Religion der Befreiung. Der politische Islam als Erweckungsbewegung«11 von Justus Wertmüller und auch in Alain Finkielkrauts Essay: »Im Namen des Anderen. Reflektionen über den kommenden Antisemitismus«12 verhandelt wird: In der Kritik »westlicher« IslamkritikerInnen13 sind Ressentiments der Repräsentanten der islamischen Erweckungsbewegung selbst virulent.
Im Folgenden möchte ich gerne darstellen, wie sich diese Überschneidung von rassistischem und islamistischem Denken mit dem der SZ-AutorInnen an ihren Artikeln zeigt und versuchen die Gründe dafür einzuholen.
Schuld und Sühne
Das antirassistische Bewusstsein ist dem 2004 erschienen Essay Alain Finkielkrauts: »Im Namen des Anderen. Reflektionen über den kommenden Antisemitismus« zu Folge einer besonderen Konstellation innerhalb der Geschichte Europas geschuldet. Europa sei in der Erinnerung des Zweiten Weltkriegs und des Holocausts immer Sieger, Opfer und Schuldiger zugleich. Deshalb sei das Bewusstsein antirassistischer EuropäerInnen das eines »bußfertige[n] Richter[s], der seinen ganzen Stolz auf seine Reue bezieht und nicht aufhört, sich im Auge zu behalten. ›Ich nie wieder!‹ verspricht Europa und stürzt sich mit aller Macht auf die Aufgabe«14. Dem Bewusstsein deutscher AntirassistInnen ist dabei vor allem die Schuld am Holocaust aufgelastet. Die von SZ-AutorInnen vollzogene Gleichsetzung von Antisemitismus und Rassismus suggeriert, wie postkoloniale Theoriebildung insgesamt, dass der Holocaust eine maßlose Fortsetzung des Rassismus seit dem 19. Jahrhunderts ist. Das hat zur Konsequenz, dass die Islamkritik, von ihnen als rassistisch verurteilt, in der Tradition des Holocausts stünde.
Damit lässt sich bereits die Rigorosität, mit welcher SZ-AutorInnen der Islamkritik den Garaus zu machen engagiert sind, erklären: Je radikaler, d.h. nahezu bedingungslos, sie dem Islam zur Seite stehen, desto leichter wird ihnen die Schuld. Mit der Kritik der Islamkritik geben sie sich also die Möglichkeit einer moralischen Katharsis. Demnach ließe an den Artikeln sich folgende Bewegung zeigen: Weil es ihnen um die Selbstreinigung von der Schuld geht, blähen sie die Bösartigkeit ihres Feindes ins Unermessliche auf, um ihrer Kritik den Nimbus von Radikalität zu verleihen. Dieser lässt sie umso reiner wie moralisch überlegen erscheinen.
Die moralische Überlegenheit ist ein notwendiges Attribut des Richters: deshalb kann er richten, verurteilen, das rechte Strafmaß verhängen. So müssen die AntirassistInnen, um sich den Status des Richters mit Legitimität zu verleihen, auf die Einhaltung der »westlichen Werte« wie Toleranz und Respekt pochen. Damit können sie die Islamkritik als gegen die westlichen Werte verstoßend angreifen. Sie glauben so, der Islamkritik die Grundlage zu entziehen und erscheinen sich selbst als die Besseren der Schlechten. Demnach ist das bußfertige Bewusstsein streng affirmativ.
Es ist aber nicht nur die Geschichte, sondern auch die Erscheinung der kapitalistischen Verhältnisse als Bedingung dieses Bewusstseins zu nennen. So gehören die deutschen AntirassitInnen nicht nur zu den Schuldigen, sondern auch zu den Siegern der Geschichte: sie leiden keine materielle Not und haben nicht um ihr Überleben zu fürchten, sondern leben in der sogenannten zivilisierten und reichen westlichen Welt: Sie ereilt solches Leid nicht, weil es den Anderen in den unzivilisierten Ländern widerfährt. Dieser Zusammenhang hält sie ebenso zur Bußfertigkeit an. So weisen sie die IslamkritikerInnen stets an, sich an die eigene Nase zu fassen, um jedes Übel in der nicht-westlichen Welt zu relativieren. Das hat einen bestimmten Grund. Ihrem Bewusstsein eines bußfertigen Richters ist zu verdrängen, dass sie gut von Erniedrigung und Ausbeutung leben, kaum mehr möglich.15 Erniedrigung und Ausbeutung jedoch auf den Begriff zu bringen, ist ihnen aufgrund ihrer Bußfertigkeit gar nicht möglich. Da sie Erniedrigung und Ausbeutung nicht gedanklich durchdringen, sondern büßen wollen, folgen sie dem der bußfertigen Haltung inhärenten Strafbedürfnis, dessen Befriedigung die Anstrengung des Gedankens verweigert. Das Strafbedürfnis ist aufgrund seiner zwei Bedingungsmomente, die Spezifik der deutschen Geschichte und die deutschen Verhältnisse heute, ein doppeltes: das Bedürfnis, eine Strafe zu erfahren und das sie zu verhängen. Ihr Bewusstsein von Geschichte verweigert den SZ-AutorInnen jedoch selbst tätig zu werden; das dürfen nur deren Opfer, die Anderen, in deren Namen sie nur sprechen können. Daher sind sie dazu angehalten, mit der strafenden Instanz sich zu identifizieren und ihr zur Legitimität zu verhelfen: der islamischen Erweckungsbewegung. Schlägt diese gegen den Westen, wird das antirassistische Bedürfnis gestillt.
Damit sitzen sie der Selbstverdeckung der Bedingungen von Erniedrigung und Ausbeutung auf – der bußfertige Richter ist daher gefährlich fetischistisch.
Kann dem antirassistischen Bewusstsein daher das Böse schlechthin, das den Islam samt seiner Gläubigen, eine ganze Kultur durch Erniedrigung und Ausbeutung zum Opfer machte, nur abstrakt als »der Westen« erscheinen, so akzeptieren sie die Gewalt, die gegen ihn gerichtet ist und die ihnen selbst nicht widerfährt. Aber auch wenn sich die Gewalt konkret gegen Menschen richtet, begegnet ihr der bußfertige Richter mit Verständnis: Der, den sie traf, wäre nicht mehr als ein manipulativer Ideologe, der mit westlichen Werten im Sinne von Erniedrigung und Ausbeutung umgeht.
Ihr Bewusstsein ist daher durchdrungen von divergierenden Feindbildprojektionen. Auf der einen Seite ist es der Westen schlechthin und auf der anderen Seite sind es DemagogInnen westlicher Werte. Die verschiedenen Seiten werden je nach Bedarf von den SZ-Autoren als Unheil angeprangert. Das beide Seiten nebeneinander bestehen können liegt daran, dass beiden derselbe Gut-Böse-Schematismus zugrunde liegt. In diesem werden die allgemein vom Westen (das Böse) und konkret von IslamkritikerInnen (die Bösen) Erniedrigten als mundtotes Opfer zu den Guten erhoben. In dem Schematismus wird somit der Zwang der Menschen, im Kapitalismus sich Kollektiven zu unterwerfen, reproduziert. Er ist dessen Verlängerung im Bewusstsein. Die Individuen werden mit einer Kultur identifiziert. Dieser Schematismus ist an das antirassistische Strafbedürfnis geknüpft, weil es sich in ihm erfüllt. Dadurch gerät das Bewusstsein in einen circulus vitiosus: Auf die Weise wie es versucht sein Schuldgefühl zu mindern, indem es den Opferstatus der »Anderen« – Grund für sein Schuldempfinden – verewigt, reproduziert es die Bedingungen, welche es weiter zur Buße anhalten. In diesem Zirkel gefangen, wird es aggressiv. Das drückt sich in der Ignoranz gegenüber Opfern islamischer Gewalt aus.
Angesichts der bisherigen Ausführungen lässt sich sagen, dass das bußfertige Bewusstsein als eine Reaktion auf die bürgerlichen Verhältnisse ein »Moment der Barbarisierung der bürgerlichen Verhältnisse«16 bildet, weil es als deren ideologische Verdopplung Kräften Vorschub leistet, die für den in diesen Verhältnissen angelegten Umschlag ins noch Schlimmere sich bewaffnet einsetzen.
Im Folgenden werde ich anhand der SZ-Texte aufzeigen, wie das Material und dessen Analyse mich zu diesen vorangestellten theoretischen Ausführungen brachten.17
Dazu beginne ich beim Anfang der Debatte im Januar letzten Jahres. Seither sind die JournalistInnen der Süddeutschen Zeitung stets darum bemüht anzuzeigen, welcher der moralisch und menschlich richtige Umgang mit dem Islam und seinen Gläubigen sei.
Antirassistischer Traditions- und Kulturschutz
Hilal Sezgin setzt in ihrem Artikel »Faire Konflikte«18 auf den »vom Grundgesetz garantierten Pluralismus der Meinungen und Lebensformen« und auf die ›Wiedererweckung des Multikulturalismus‹. Es wäre dessen Einsicht zu folgen, »dass dieser Pluralismus unhintergehbar und irreversibel ist«, um einen respektvollen und fairen Austausch zwischen den verschiedenen Kulturen, Traditionen und Gruppen zu gestalten: denn die »Anderen werden nicht gehen«. Dass sie es sollen, ist eine Forderung, die Sezgin allgemein den IslamkritikerInnen unterstellt. Der Schutz der »Anderen« gegenüber solcherlei Forderungen ist Sezgin multikulturelle Herzensangelegenheit. Dabei wendet sie sich gegen einen »gesetzgeberischen Paternalismus«, der versuche, »partikulare Praktiken« der »Anderen« zu verbieten. Das wäre ein Verstoß gegen Fairness und Pluralismus, schütze doch die deutsche Verfassung auch »jede Menge partikularer Überzeugungen und Praktiken«, die »unter einheimischen Deutschen« Verbreitung finden. So seien z. B. Jäger in Deutschland eine »geschützte Gruppe, auch wenn deren gruppenspezifische[n] Werte mit solchen der Allgemeinheit« kollidierten. »Konflikte« gehörten aber ebenso wie die »Unterschiede« von Menschen verschiedener Kulturen zum Pluralismus dazu wie – so lässt sich folgern – Gleichgültigkeit gegenüber dem leidvoll dem Individuum zugemuteten Inhalt »partikularer Überzeugungen und Praktiken« zum Mulitkulturalismus.
Die Gleichgültigkeit hat einen bestimmten Grund: Die »Anderen« wären wie Jäger als Kollektiv und nicht als Individuen schützenswert. Daher muss Sezgin primär für den Schutz dessen sich einsetzen, was die MigrantInnen jeweils mit Zwang zu einem Kollektiv macht: Kultur, Traditionen und »partikulare Praktiken«19, sprich überlieferte Sitten, Tugenden und kulturelle Identität. Diese Mechanismen sind gewaltvoll, weil sie den jeweils Einzelnen inhaltlich vorgeben, wie sie zu leben haben, nötigenfalls mit Gewalt. Kulturelle Identität bildet somit den Zwangsmechanismus, der das Individuum auf eine das Kollektiv reproduzierende Funktion herabwürdigt. Für den Multikulturalismus aber gilt sie vor dem Hintergrund seiner Gleichgültigkeit gegen die bestimmten Inhalte von Kultur als Wert an und für sich. Dem Multikulturalismus ist daher die Anerkennung der Unterordnung des Individuums inhärent.
Die Anerkennung von Zwangsmechanismen zu fordern, ist daher auch Aufgabe des multikulturalistischen Pluralismus. In ihm werden »die Kulturen« nur als Bereicherung des Alltags begriffen, weshalb ihre scheinbar lehrreichen Unterschiede stets betont werden müssen. Dadurch leistet der multikulturalistische Pluralismus dem rassistischen Ressentiment Vorschub, wogegen es aber Antidiskriminierungsgesetze gebe – so die Vorzeigedemokratin Sezgin.
Flöhe nun unter Einsatz ihres Lebens eine von »partikularen Praktiken« bedrohte Frau nach Deutschland, so gelte ihr nach Sezgins Ausführungen nicht als bedrängtem und gegängeltem Individuum der Schutz, sondern als Exemplar ihrer vermeintlich zu schützenden Kultur. Um also von Sezgin als schützenswert angesehen werden zu können, wird die Frau von ihr mit dem identifiziert, vor dem sie flüchtete: der Kultur, der Tradition, den »partikularen Praktiken«, denen sie sich als Individuum durch ihre Flucht zu entziehen versuchte.
Sezgin wiederholt in ihrer Verteidigung des Pluralismus der Lebensformen an der ihrem repressiven Kollektiv entflohenen Frau, was dieses ihr bereits angetan hatte, um sie wieder ins Kollektiv einzureihen. Der Gewalt, welcher die Frau in dem Kollektiv ausgesetzt ist und wofür die Flucht den praktischen Beweis darlegt, begegnet Sezgin mit Ignoranz. Soviel zu ihrer Toleranz.
Die Weise, in der Sezgin sich für den Schutz von MigrantInnen in Deutschland einsetzt, rechtfertigt Angriffe auf Individuen. Beidem – Schutz und Angriff – geht, gleichgültig gegen das persönliche Leid, die Identifizierung des Individuums mit seinem Zwangskollektiv voraus. Ihre Forderung zum richtigen Umgang mit MigrantInnen wiederholt damit die Erniedrigung des Individuums, nur als identitäres Gemeinschaftsexemplar ein Existenzrecht zu besitzen.
Und es zerbröselt die Distanzierung zum Rassismus: Denn in der Weise, wie sich die Antirassistin Sezgin für Fairness und Pluralismus einsetzt, teilt sie auch die Grundannahme mit dem Rassisten Sarrazin, dass Individuen nicht mehr wären als Merkmalsträger der mit ihnen kulturell oder organisch zusammenhängend gedachten Gemeinschaft. So spricht Sarrazin z.B. in einem Interview davon, dass Araber und Türken »keine produktive Funktion, außer für den Obst- und Gemüsehandel«20 besäßen.
Die Differenz zu Sarrazin liegt darin, dass Sezgin die »Anderen« aufgrund ihrer Unterschiede von der Leitkultur nicht als minderwertig bezeichnet. Dass sie MigrantInnen aber entgegen ihrer Intention minderwertig macht, indem sie sie nicht als Individuen denkt, liegt in der Konsequenz ihres multikulturellen Antirassismus.
Damit exekutiert Sezgin in ihrem Denken ebenso das islamische Herrschaftssystem: in ihm steht die Gemeinschaft stets vor dem Individuum, weshalb Sarrazins Rassismus auch von Neid geprägt ist. 21 Das Individuum hat in der islamischen Gemeinschaft lediglich die Funktion, die Gemeinschaft durch die sichtbare Einhaltung ihrer Gesetze stets aufs Neue zu stiften. Das geschieht vor allem durch das Tragen von Kopftuch oder Burka. Dass Sezgin sich gegen ein Kopftuchverbot ausspricht, weil es ein Verstoß gegen »eigene Lebensentscheidungen« wäre, drückt ihre bedingungslose Solidarität mit islamischen Gemeinschaften aus: In der Weise, wie sie MigrantInnen betrachtet, affirmiert sie deren Unterwerfung, zu welcher der Islam sich berechtigt sieht.
Vor diesem Hintergrund wird evident, was es bedeutet, wenn Sezgin ganz pluralistisch dagegen argumentiert, dass man nicht versuchen dürfe »Gesinnung und Verhalten der Migranten ›auf Linie‹ zu bringen«: sie überlässt sie ihrem Schicksal, d.h. sie bringt sie auf die Linie, auf der zu leben sie vom Islam mit Gewalt gezwungen werden.
Dadurch steht Sezgin wiederum auch auf Linie des vermeintlichen Feindes: Treibt Sarrazin die Angst vor dem Verlust der Leitkultur um, sieht er in der Heterogenisierung der Gesellschaft deren Schwächung, weshalb er zur Abschottung gegen fremdes Erbgut aufruft, so vollzieht Sezgin im multikulturellen Durchbruch der Leitkultur den Anspruch Sarrazins auf deren hygienische Besitzstandwahrung. Und zwar, wenn sie sich entgegen »dem alten marxistischen Sinne«, dass die, »die ›traditionell‹ erzogen wurden ›verblendet‹ sind,« für ein »gleichberechtigtes Zusammenleben« von Leit- und zugewanderter Kultur einsetzt.
Der polemische Seitenhieb auf den »marxistischen Sinn« unterstreicht nochmals die ideologische Querfront von Sezgin, Sarrazin und islamischer Erweckungsbewegung: Indem sie jenen Sinn verabschiedet und der Kritik der Verblendung die Konservierung von Traditionen entgegenhält, vollzieht sie dieselbe Negation der Vorstellung der Menschheit als Gattung, die Sarrazins buchgefasster Heimatschutz und die Umma bedeuten.22
Um ihrer Verachtung des Individuums die politische Korrektheit zu verleihen, stempelt Sezgin in ihrem zweiten Artikel »Kopftuchfrauen«23 diejenigen, die dem Individuum gegen den Islam beistehen wollen, zu Rassisten in ihrem Sinne: Wer den Islam für »fanatisch, intolerant und undemokratisch hält« hegte ebensolche Ressentiments wie derjenige, der »im Nach-Holocaust-Europa eine ablehnende Haltung gegenüber dem Judentum einzunehmen vermag«.24
Pluralistische Schariapflege
Ein weiterer Vorschlag, wie man dem Islam und seinen AnhängerInnen richtig begegne, findet sich in Andreas Zielckes Artikel »Auszug nach Ägypten«25. In diesem wird zunächst behauptet Islamkritik wäre meist ein dem »Reizwort Scharia« folgender Reflex. Wer den »Einwanderern den Willen zu solchen Grausamkeiten« wie »Enthauptungen und Verstümmelungen« unterstellt, der folge »seinen Reflexen, nicht seinem Gehirn. Mehr noch, er muss sich blind stellen: Längst sind Elemente der Scharia in Europas Rechtspraxis zu Hause – natürlich ohne jene Gräuel.« Hingegen ist die Behauptung, die Kritik an den in der Scharia festgehaltenen Gräuel wäre eine Kritik an MigrantInnen, Zielkes Diffamierung der Islamkritik, die seinem Reflex auf das Reizwort Kritik geschuldet ist.
Zunächst aber zu Zielckes Ausführungen: Er behauptet, es wäre vor allem die »Unkenntnis über islamisches Recht«, der die »eingeübten Reflexe der Islamkritik« geschuldet sind und die die »Fähigkeit«, die »Scharia an die westlichen Rechtsmaximen anzuschließen«, desavouierte. Dieser Unkenntnis möchte Zielcke entgegentreten. Hierzu zieht er ein Beispiel gelungener Schariaintegration heran. 2004 hatte der Bundesgerichtshof (BGH) im Scheidungsprozess eines in Deutschland ansässigen iranischen Ehepaars begründet, warum iranisches Recht zugrunde zu legen sei: Die Vorinstanz hatte der Frau die Scheidung verweigert, »weil die – dem Mann vorbehaltene – iranische Scheidungsformel nur ein geistliches Gericht, auf der Grundlage religiöser Vorschriften (Scharia) aussprechen kann«, keinesfalls aber ein deutsches Gericht, dem solche Vorschriften »wesensfremd« seien. »Mit größter Sorgfalt«, so Zielcke weiter, hätte der BGH im Folgenden dargelegt, dass das iranische Recht die Scheidung tragen könne. Hieran zeige sich, »wie man Regeln der Scharia übernimmt, ohne den Rechtstaat zu verraten«.
Was sich hier vor allem zeigt: Zielckes engagiertes Verständnis für MigrantInnen lässt sich von antiindividualistischen wie kulturrelativierenden Reflexen leiten. Denn in der Sorge um den Rechtsstaat – und den Büßer bringt die Sorge um die korrekte Aufrechterhaltung seiner Institutionen um den Verstand – missachtet Zielke den offensichtlichen Verrat, den die Anwendung der Scharia für die Frau bedeutet. Denn dass dieser zunächst die Scheidung verwehrt wurde, bedeutet deren Ungleichbehandlung. Kommen dem Menschen sonst als Individuum alle unverbrüchlichen Rechte zu, sah das Gericht sich hier aufgrund »kultureller Differenz« berechtigt, die Frau als Individuum zu missachten, indem es ihr die Scheidung verwehrte. Damit behandelte das Gericht sie der Scharia gemäß: als Funktion der patriarchalischen Gewalt und dem Mann Untergeordnetes. Für Zielcke kein Problem, denn seines Erachtens wäre die Tatsache, dass sie in zweiter Instanz gegen ihren Willen26 gezwungen wurde, sich nach dem Recht behandeln zu lassen, das sie als Individuum nicht anerkennt und womöglich erst in die Ehe mit dem Mann zwang, »ein kluger Anschluss an ein vormodernes Recht«.
Indem Zielcke sich durch die Verteidigung der Scharia gegen islamkritische Reflexe zum Patron der MigrantInnen erhebt, goutiert er ihre Erniedrigung.
Damit verhilft Zielcke dem ideologischen Schwergewicht der islamischen Erweckungsbewegung, dem Vorrang der Gemeinschaft vor dem Individuum, zur Radiuserweiterung seines Kampffeldes. Dazu hält ihn sein Bewusstsein an. Das gibt ihm kulturrelativierend zu verstehen, auf »einwandernde Norm-Mentalität« achtzugeben; von scheinbaren Geistesunterschieden von MigrantInnen auf deren Ungleichbehandlung zu schließen.
Dass von vermeintlichen Geistesunterschieden auf Ungleichbehandlung zu schließen wäre, weiß auch Sarrazin: »Die Türken erobern Deutschland genauso, wie die Kosovaren das Kosovo erobert haben: durch höhere Geburtenrate. Das würde mir gefallen, wenn es osteuropäische Juden wären mit einem um 15 Prozent höheren IQ als dem der deutschen Bevölkerung«27. Weil also die Türken noch dümmer wären als die Deutschen und aufgrund ihrer übersteigerten Fertilität »Staat und Gesellschaft im Laufe weniger Generationen von den Migranten übernommen«28 würden, kann die »einzige sinnvolle Handlungsperspektive […] daher nur sein, eine weitere Zuwanderung aus dem Nahen und Mittleren Osten sowie aus Afrika generell zu unterbinden.«29 Sollen sie doch zuhause ihre »lange Tradition von Inzucht und entsprechend viele[n] Behinderungen«30 fortführen. Das verringert Deutschlands Kosten und führt es zu neuer Stärke, könnte man dem Heilerziehungspfleger der deutschen Volksgemeinschaft in den Mund legen.
Die SZ-AutorInnen erstellen aber nicht bloß einen Katalog Individualität verdammender Umgangsformen, sondern sind vor allem engagiert der Öffentlichkeit zu präsentieren, warum die IslamkritikerInnen die richtig Bösen, die Feinde sind. So wären diese nicht bloß paternalistisch und ignorant, sondern heuchlerisch, respektlos, verschwörerisch und vor allem rassistisch. Sie leisteten »antiislamischen« Ressentiments Vorschub, indem sie den Standpunkt des säkularen, westlichen, weißen Mannes verträten, der sich stets die Welt nach seinem aufgeklärten Gusto Untertan zu machen gewillt wäre.
Männerverschwörung und islamische Feminismusfürsorge
Sezgin behauptet diesbezüglich in ihrem Artikel »Kopftuchfrauen«, entgegen dem Herrschaftsanspruch weißer alter Männer, es handle sich beim Islam bloß um einen »vermeintlich frauenfeindlichen« Glauben. Islamkritik, die an Kopftuch und Frauenfeindlichkeit anhebt, wäre folglich nur ein Mittel deutscher RassistInnen ihrer Fremdenfeindlichkeit einen möglichen Ausdruck in der Öffentlichkeit zu verleihen.
Dass solche Kritik aber einer Verschwörung der Männerwelt zur Aufrechterhaltung ihrer Herrschaft ähnelt, gegen welche die verschleierte Frau Widerstand leistete, stellt die Auffassung des SZ-Gastbeitrags Ingrid Thurners dar, Ethnologin am Institut für Kultur- und Sozialanthropologie der Universität Wien.
Ihrem Artikel »Der nackte Zwang«31 zu Folge seien Diskussionen um Kopftücher nicht nur nicht ernst gemeint, sondern vor allem auch ein Instrument patriarchaler Strukturen: sie »verschleiern die Unterdrückung der modernen Frau«. Denn während jede »öffentliche Erregung« nur der verschleierten Frau gelte, verliere man gänzlich aus dem Blick, welchen »Zwängen […] konform-westlich denkende Frauen für den Auftritt in der Öffentlichkeit« sich zu unterwerfen hätten. Vom »männlichen Blick« beherrscht, täten sie sich »hohe Absätze, hautenge Jeans, frieren in der Kälte, ein Leben lang hungern« an, »um den Körper vorzeigbar zu machen«, dem männlichen Blick sich ›aufzudrängen‹, so Thurners Wortwahl. Es würden »Leiber für die Öffentlichkeit entblößt«, an denen lediglich noch »ein paar Stoffstreifen« hingen, »die die wesentlichen Körperteile weniger verhüllen als zur Schau stellen.« Für diese Leiberschau wäre es wichtig, »dass die knappen Winzigkeiten klangvolle Erzeugernamen tragen und zu überhöhten Preisen erworben werden«. Nach Thurner mag es so sein, dass Männer Frauen nicht zwängen, sich derart zu entblößen, aber sie profitierten davon. Denn es wäre doch so, dass »opulente Nacktheit allgegenwärtig ist« und von daher »nicht mehr recht beeindruckend«, weshalb nachgeholfen werden müsste. Und während Frauen im von »Hollywoods Schauspielerinnen« angeheizten »Wettbewerb in der Erleichterung des Körpers von Textilem bei gleichzeitigem Exponieren strategisch wichtiger Körperteile« damit beschäftigt wären, sich »auf Operationstische zu legen, Busen zu heben, Lippen zu verdicken, Fett abzusaugen, Vaginen zu stylen […] machen Männer Karriere und besetzen die wichtigen Positionen in Wirtschaft, Forschung, Bildung, Politik […]. So sehr verschieden von islamischen Gegebenheiten ist das nicht«.
Der »ganze Islam- und Verhüllungsdiskurs« zeigte sodann, dass »die Muslimin […] dringend benötigt« würde, »nämlich zur Verhüllung des Dilemmas, dass in dieser aufgeklärten Zeit Frauen zwar beinahe nackt herumlaufen dürfen, aber sonst wie eh und je wenig zu entscheiden haben«. Die »weibliche Verhüllung« selbst würde also bloß »vorgeblich verdammt«, um die Herrschaft des männlichen Blicks aufrecht zu erhalten.
So wäre Thurner zu Folge das einzige Problem des Islams, dass dessen Kritik eine Manipulation, eine »Verhüllung« der Unterdrückung der westlichen Frau hervor riefe. Dass bedeutet, dass für Thurner der Islam ebenso als Opfer des westlichen, manipulativen Machtkalküls gilt. So verleiht sie dessen Herrschaftspraxis, zu der das Kopftuch konstitutiv gehört - gleichgültig wie frau sich zu ihm verhält -, den Nimbus gelebten Widerstands.
Es ist demnach nur konsequent, dass für Thurner verschleierte Musliminnen das Erbe des »westlichen« Feminismus zur Verwirklichung seines Anspruchs anträten, nachdem Frau »kein Objekt der sexuellen Begierde mehr […] sein« soll. Denn diese, so Thurner stolz, geben »immer wieder an, dass sie sich nicht über ihren Körper definieren lassen wollen«, weshalb sie, aufgrund ihres Widerstandes gegen den männlichen Blick, »genau genommen« dem »Zwang, das Kopftuch nicht zu tragen« unterlägen – der islamic turn des Feminismus.
Wo das Zentrum der Unterdrückung sich befindet, weiß Thurner auch zu sagen: in Amerika, in Hollywood, der Welt der scheinbar zwangsoperierten Künstlichkeit. Das grundsätzliche Übel also, welches Frauen widerfährt, wäre, dass sie von Amerika zur künstlichen Trimmung wider ihre Natürlichkeit gezwungen würden – das Feindbild ist somit gezeichnet.
Das Feindbild ist jedoch nur ein Moment im bußfertig richtenden Bewusstsein. Zu ihm gehört ebenso die bedingungslose Solidarität mit den vermeintlichen Opfern des so gearteten Feindes, um der Abarbeitung der Schuld willen. Bedarf die Abarbeitung der bedingungslosen Solidarität wie diese der moralischen Reinheit der Opfer, so dient das Feindbild der Relativierung der Übel auf der Seite des Opfers, der islamischen Gegenseite. Weil die Gegenseite nicht schlimmer wäre als der Feind, der aber Urheber der von ihr zu ertragenden Missstände ist, ist sie als Opfer schlechthin moralisch rein. So wären exponierte Körperteile, aufgespritzte Lippen und gestylte Vaginen »nicht so sehr verschieden« von gesteinigten Körpern, verätzten Gesichtern und beschnittenen Klitorides32, von denen sie nicht spricht. Das ist nicht nur kulturrelativierend, sondern menschenverachtend – demnach aber zweifellos die notwendige Konsequenz eines derartigen ressentimenthaften Bewusstseins.
Wer sich jedoch nicht wie Thurner von Ressentiments leiten lässt, dem ist es möglich am Missverhältnis ihres Vergleichs den Ausdruck eines ihrem Bewusstsein inhärenten regressiven Bedürfnisses zu erkennen: Auch wenn sich westlich-konform denkende Frauen gezwungen fühlen, all die Dinge von denen Thurner spricht, sich anzutun, so müssen sie nicht um ihr Leben fürchten.
Die Gewalt, die von dem Zwang gesellschaftlicher Etikette ausgeübt wird, ist in der bürgerlichen Gesellschaft vermittelt und droht nicht mit unmittelbarer Strafe. Vielmehr erfahren Frauen die Strafe von Thurner, wenn sie der gesellschaftlichen Etikette entsprechen: Sie spricht ihnen deswegen Subjekt zu sein ab, folgten sie Thurner zu Folge doch bloß blind dem Hollywood-Körperteile-Expositionswettbewerb. In der islamischen Gemeinschaft verhält es sich für Thurner hingegen anders: Für sie scheint es, als vollzögen, wie sie sagt, verschleierte Frauen »die Autonomie des Individuums, das Recht der freien Entscheidung« und wären demnach Subjekte in der Identität mit der islamischen Gemeinschaft. Die Realität der islamischen Gesellschaft vollstreckt aber ein anderes Urteil: Lebten verschleierte Frauen tatsächlich ihre Autonomie als Individuum, wäre es ihnen möglich, ohne unmittelbar eine Strafe zu erfahren, den Vorschriften ihres Kollektivs als autonomes Individuum sich zu entziehen, den Schleier überall und jederzeit abzulegen. Dann jedoch läse man nicht von gesteinigten Ehebrecherinnen33, gegen die Thurner sich blind stellt. Als verschleierte sind Frauen in der islamischen Gemeinschaft Objekt, als Einzelne nur akzeptiert in der Funktion, der Gemeinschaft stets ihren eigenen lustfeindlichen Moralkodex widerzuspiegeln.
Vor dem Hintergrund Thurners naturfetischistischen, lustfeindlichen Feminismus und dem mit ihm zusammenhängenden Hass auf die westliche künstlich-vermittelnde Konkurrenzwelt, aber vor allem an der Behauptung, dass Autonomie des Individuums in der Identität mit seiner Funktion für die Gemeinschaft statthabe, ist das oben angeführte regressive Bedürfnis zu erkennen. Dieses findet seinen Ausdruck darin, dass Thurner trotz der barbarischen Differenz des islamischen vom kapitalistischen Gesellschaftsmodell erstes goutiert: Thurner begehrt – indem ihr Hass auf die westliche Welt das ihr inhärente Glücks- und Freiheitsversprechen kassiert, welches einen möglichen diese Welt transzendieren Überschuss darstellen –, dass den Individuen ihre Funktion für die Gemeinschaft zur Natur wird. Weil diese Auslöschung der Nichtidentität des Individuums in der islamischen Gemeinschaft durch die Anwendung der Scharia vollzogen wird, kann Thurner behaupten, dass zu denken »Musliminnen seien unterjocht von ihrer Religion und von ihren Männern« bloß ein falscher »Glaube« wäre. Nur deshalb gilt das Wort der Muslimin für Thurner als wahr; das der westlich-konformen Frau hingegen als was auch immer. Und deshalb bläht sie »den Westen« zum allmächtigen Feind auf, weil die Verschmelzung des Individuums mit seiner Funktion für die Gemeinschaft nur vor dem Hintergrund deren Bedrohung statthaben kann, die die Künstlichkeit des Westens als permanenter die Gemeinschaft perforierender, weil Individuen entlassender Vermittlungszwang bedeutet. Demnach läge das Heil der Welt in deren Verunmittelbarung zurück zum Stamm – in dem nämlich gäbe es keine Busen hebenden Operationen.
Thurner begründet die islamische Gemeinschaft als Opfer- und damit als Schicksalsgemeinschaft, weshalb sie sich für jede Form der Feindabwehrmaßnamen zu ihrer Wiedererstarkung bedingungslos einsetzt. Darin liegt nicht nur die Erfüllung ihres regressiven Bedürfnisses: die Abstrafung des Westens, für die sich einzusetzen sie sich eine Entlastung von der Schuld, weil den Opfern beistehend, verspricht. Indem sie sie aber im Krisenlösungsmodell der bürgerlichen Verhältnisse gefunden hat, leistet sie der Reaktualisierung der Vorrausetzungen ihrer Schuld ideologische Beihilfe, indem sie dadurch Teilen der islamischen Erweckungsbewegung zur Seite steht, die vor allem angetreten sind, den Nationalsozialismus in der Vernichtung der Juden zu beerben.
Mit der islamischen Erweckungsbewegung teilt sie nicht nur das Feindbild und die Verachtung des Individuums, sondern darüber hinaus weitere Momente, die konstitutiv für die Umma sind. Thurner denkt die Umma: Sie denkt ihren Antiimperialismus, indem auch sie das von Amerika unberührte Kollektiv an die Stelle des Individuums zu setzen gewillt ist. Sie verwehrt, wie die Umma, den Einzelnen das kleine bisschen Glück, das durch westliche Kleidung ihnen zu erfahren vielleicht noch möglich wäre. Sie teilt ihren Wahn, alles Böse käme von außen, aus dem Westen. Wie in der islamischen Gemeinschaft harte Züchtigungen eines Individuums durch eine Gefahr von außen begründet werden, so relativiert Thurner islamische Untaten. Sie unterstützt ihren Reinigungsprozess, den die Umma am Gegner Israel vollziehen muss und Thurner am Westen schlechthin versucht. Daran wie die Umma durch moralische Selbstreinigung zu neuer Stärke heranzureifen versucht und jedes Mucken der Lust unterdrückt, erkennt Thurner gelebten Feminismus und ein Model, sich von der eigenen geschichtlichen Schuld zu entlasten.
Aber Thurners Denkmechanik ist nicht nur mit der Umma verzahnt. Blickt man in die Tiefe der Denkbewegungen Sarrazins, lässt sich erkennen, dass diese mit Thurners parallel laufen.
So bedarf auch Sarrazin zur Einschwörung der deutschen Volkgemeinschaft auf eine Ankurbelung ihrer Leistungsbereitschaft und Gebärfreudigkeit eines Feindes: die islamischen Migrantinnen. Dass »deren Fruchtbarkeit dauerhaft über dem deutschen Durchschnitt liegen wird« machte deren »starke Religiosität […] wahrscheinlich« 34. Dass das bedeutete, dass Muslime durch ihre religiös bedingte Gebärfreudigkeit den deutschen Staat und die Gesellschaft übernähmen, wurde hier schon gesagt. Diesen Hintergrund führt Sarrazin zur Begründung seiner Zukunftsvision an: Ihm nach sollten vor allem bildungsstarke Frauen ihre Gebärmutter in den Dienst des deutschen Kollektivs stellen, um die drohende Übernahme Deutschlands durch Muslime zu verhindern. Dazu solle der Staat »die Neigung zur dauerhaften Partnerbildung fördern«35.
Wie bei Thurner und der Umma, drückt sich folglich auch bei Sarrazin die Verachtung des Individuums vor dem Hintergrund eines Feindbildes am Verhältnis zum weiblichen Geschlecht aus: Dieses hätte vor allem die Funktion die Deutschland wirtschaftlich stärkende Verbreitung der Intelligenz und der Homogenität zu fördern.
Wird bei Thurner und in der Ideologie der Umma um der Gemeinschaft willen die Lust jedoch durch Androhung von Gewalt einfach unterdrückt, muss Sarrazin – dem letzten Rest demokratischer Vernunft in ihm folgend – Anreize für ihre Indienstnahme für die Gemeinschaf bieten. Damit die Unterwerfung unter das Diktat der Wertverwertung in der Unterhose zupacken kann fordert er ein »[q]ualitativ hochwertiges, ganztägiges Betreuungsangebot und flächendeckend Ganztagsschulen«36. Ebenso sollten »Menschen mit Kindern […] deutlich weniger in die Rente einzahlen müssen als Menschen ohne Kinder«37 . Außerdem müsste »Kindergeld […] einkommensabhängig gewährt werden, und zwar so, dass wohlhabendere Eltern mehr bekommen als arme. Nur dann fördert das Kindergeld die Bereitschaft der bildungsnahen und besser verdienenden Familien, Kinder zu bekommen«38.
Damit möchte ich auf die frühe Behauptung zurückkommen, dass durch Sarrazins Ressentiments auch der Neid spricht: Die Umma gewährt das, was Sarrazin deutsches Herz am stärksten sich wünscht: das Aufgehen der Einzelnen in ihrer Funktion für die Gemeinschaft, ohne Unkosten zu produzieren.
Gefährliches Bewusstsein
»…und jene, welche die repressive Kultur nicht an sich heranließ, werden leicht genug zu deren borniertester Schutztruppe.« ( T. W. Adorno: GS 4, S, 58.)
Am Vorhergehenden insgesamt ließ sich zeigen, dass die von dem spezifischen Strafbedürfnis eines bußfertigen Richters angetriebene Kritik an den Missständen der bürgerlichen Verhältnisse sich in ihrer Art und Weise nicht von rassistischen Denkmustern einerseits und Ressentiments der islamischen Erweckungsbewegung andererseits unterscheiden lässt. So wie Sezgin versucht, die Akzeptanz des Islams zu befördern, wie Zielcke versucht, zwischen Scharia und Rechtsstaat zu vermitteln und wie Thurner sich für die verschleierte Frau einsetzt, stehen allesamt im Bann der schlechten gesellschaftlichen Totalität. Als Apologeten der alltäglichen Gewalt des Islams haben sie praktisch Teil am qualitativen Umschlag der Gesellschaft ins noch Schlimmere.
Das Denken des bußfertig richtenden Bewusstseins sowie dessen Verbreitung ist radikal zu bekämpfen, weil es gefährlich ist. Es ist deshalb gefährlich, weil es wesentlich Ressentiment beladen ist und darum in der Kritik des Rassismus Denkmuster bedient, dessen der Rassismus zu seiner Akzeptanz bedarf. Es ist deshalb gefährlich, weil es den Antisemitismus marginalisiert, während es seine Struktur selbst verbreitet. Es ist aber auch insofern gefährlich als es anschlussfähig ist für faschistoide Gemeinschaftsideologien. Diese erscheinen ihm als Korrektiv bürgerlicher Missstände, deren wichtigster Bestandteil die Auflösung – d.h. die Unterwerfung oder Hinrichtung – des Individuums im Kollektiv bildet. Deren derzeit am rigidesten praktizierende Form bildet der Islamismus, dessen konstitutive Momente von denen des Faschismus nicht zu trennen sind. Das bußfertige Bewusstsein ist daher gefährlich, weil es die Kräfte, die den Nationalsozialismus beerben wollen, ideologisch unterstützt. Und es ist vor allem gefährlich, weil es Ausdruck dafür ist, dass die regressiven Bedürfnisse, welcher der Islam befriedigt, sich nicht verorten lassen in spezifischen Regionen der Welt; weil diese Bedürfnisse es vermögen, entgegen des persönlichen Anspruchs der SZ-AutorInnen sich von diesen und großen Teilen der Öffentlichkeit unbemerkt Bahn zu brechen.
Postludium
Der Auflösung des Individuums in der Identität mit seiner Funktion für das Kollektiv, seinem scheinbar notwendigen Verbleib im Zwang und dessen Anerkennung im Amor Fati bleibt nur mit Wilde zu entgegnen: »Das Individuum hat das Schöne zu tun.«39
ANMERKUNGEN
1) Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra, Stuttgart 1994, S. 87.
2) Trotzdem spricht aus Nietzsche ein gewaltiger Geist, der schonungslos auf muffige Traditionen und störrische Zwangsvergemeinschaftungen losging. Aber es spricht aus ihm auch der Geist der Verhältnisse zu deren eigener Bestätigung.
3) Oscar Wilde: Der Sozialismus und die Seele des Menschen, Zürich 1982, S.18.
4) Ebd., S. 10.
5) Ebd., S. 17.
6) Andrian Kreye auf seiner Homepage »Der Feuilletonist«, http://blogs.sueddeutsche.de/feuilletonist/2010/01/05/wertedebatte/
7) Ders.: »Die Wertedebatte läuft falsch«, in: SZ vom 4.1.2010
8) Thomas Steinfeld: »Militante Propaganda«, in: SZ vom 1.2.2010
9) Ebd.
10) Ders.: »Unsere Hassprediger«, in: SZ vom 14.1.2010
11) Justus Wertmüller. »Religion der Befreiung. Der politische Islam als Erweckungsbewegung«, in : Stephan Grigat, Simone Dinah Hartmann (Hg.): Der Iran . Analyse einer islamischen Diktatur und ihrer europäischen Förderer, Innsbruck 2008, S. 247-257.
12) Alain Finkielkraut: »Im Namen des Anderen. Reflektionen über den kommenden Antisemitismus«, in: Doron Rabinovici, Ulrich Speck, Nathan Szaider (Hg.): Neuer Antisemitismus? Eine globale Debatte, Frankfurt 2004, S. 119-132.
13) Für die SZ-KritikerInnen gibt es nur die »westlichen IslamkritikerInnen«. Ihnen sind mangels Ressentiment verwehrter Differenzierung die Pro Köln Bewegung, Udo Ulfkotte, Hendry M. Broder und Stop the Bomb nicht mehr als ein islamkritisches und daher rassistisches Allerlei.
14) Finkielkraut, S. 123.
15) Vgl. auch hierzu die Ausführungen von Gerhard Scheit: »Gemeinschaftsneid und Strafbedürfnis. Die zwei Formen des postnazistischen Bewusstseins«, in: Bahamas Nr. 61
16) Café Critique: »Islamkritik und Politik im Namen des Volkszorns. Die FPÖ und das postnazistische Österreich«, http://www.cafecritique.priv.at/Islamkritik.html
17) Dass ich dabei nicht darauf eingehe, inwiefern es zutrifft, dass es sich bei einigen islamkritischen Gruppen um rassistische handelt, liegt an der Konzentration meines Interesses auf die Tiefenbewegungen der Argumentationen der SZ-AutorInnen.
18) Hilal Sezgin: »Faire Konflikte«, in: SZ vom 23.2. 2010. Alle nicht anders gekennzeichneten Zitate dort entnommen.
19) Ebenso werden sie vom kapitalistischen Souverän, wenn er sie von der kapitalistischen Verwertung ihrer Arbeitskraft ausschließt, zur Gruppe gemacht. Auch diese Erniedrigung zu reproduzieren bedeutet Sezgins Multikulturalismus.
20) Interview mit der Zeitschrift »Lettre International«, Nr. 86 vom 1.10.2009.
21) Vgl. hierzu Scheit. Der Gedanke wird später noch einmal aufgegriffen.
22) Ebenso hält Sezgin hiermit der bloß formalen Vergemeinschaftung der Menschen eine inhaltlich bestimmte entgegen, indem sie auf die Aufrechterhaltung von Traditionen drängt.
23) Hilal Sezgin: »Kopftuchfrauen«, in: SZ vom 17.12.2009.
24) Damit zeigt auch hier sich die Ineinssetzung von Antisemitismus und Rassismus. Ersterer wird dadurch zur Unterform des zweiten verharmlost.
25) Andreas Zielcke: »Auszug aus Ägypten«, in: SZ vom 5.2. 2010. Alle nicht anders gekennzeichneten Zitate dort entnommen.
26) Drückt doch ihre Handlung, ihren Widerwillen gegen das Recht aus, das diese Scheidungsformel und ihre Unterordnung unter den Mann konstituiert.
27) Thilo Sarrazin: Deutschland schafft sich ab. Wie wir unsere Land aufs Spiel setzen, München 2010, S. 259
28) Ebd.
29) Ebd., S. 372.
30) Ebd. S. 316.
31) Ingrid Thurner. »Der nackte Zwang«, in: SZ vom 22.6.2010. Alle nicht anders gekennzeichneten Zitate dort entnommen.
32) Die Schaffiiten halten die Beschneidung der Klitoris für eine religiöse Pflicht.
33) Die wären Thurner zu Folge wahrscheinlich ein Ablenkungsmanöver westlicher Medien.
34) Sarrazin, S. 363.
35) Ebd., S. 379.
36) Ebd., S. 330
37) Ebd., S.383.
38) Ebd.
39) Oscar Wilde, S. 32.
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