Wieviel Zukunft erträgt der Mensch
John Cage und das Halberstadt-Projekt
Am 5. September 2000 wurde die Aufführung von John Cages Organ2/ASLSP in der St. Burchardikirche in Halberstadt eröffnet. Die Idee der Aufführung geht auf Hans-Klaus Metzger, den Organisten Hans-Ola Ericsson und den Komponisten Jakob Ullmann zurück. Organ2/ASLSP hat keine klare Zeit-, sondern nur eine Tempovorgabe: »as slow as possible.« Die Vorgabe zu einem Stück, das bislang fast immer in Versionen um die zwanzig Minuten Länge gespielt wurde, wird in Halberstadt ernst genommen: Die dort eröffnete Version soll 639 Jahre lang dauern – und beginnt erst einmal mit einer Pause, die etwa anderthalb Jahre beanspruchen wird. So lange also ist es erst einmal still in St. Burchardi, wo die extra für das Projekt hergerichtete, vor 639 Jahren erbaute Blockwerk-Orgel darauf wartet, die ersten Töne von sich zu geben. Und weil diese Stille vom Fremdenverkehrsamt des ostdeutschen Provinzstädtchens wohl nicht als sehr publikumswirksam angesehen wird, findet sich bislang auf der städtischen Homepage kein Hinweis auf dieses eigenartige Projekt. Eigenartig war es wohl auch, als der Geophysiker Michael Betzle, der sich als Förderer für das Organ2/ASLSP einsetzte, mit den Banken über Kredite sprach, denn von solchen, die 639 Jahre Laufzeit betragen, hatte man dort noch nichts gehört.
Neben allem Kuriosen, was sich über das Projekt sagen ließe, neben schlechten Kalauern im BILD-Stil, die sich hier so wie einst gegen Beuys austoben können und die immergleiche Allianz von Zauberflöte und Steuerzahler gegen Cage ausspielen, wirft die Aufführung Organ2/ASLSP jedoch vor allem Fragen auf, die über eine schrullige Idee mit ungewissem Ausgang hinausgehen. Da sind erst einmal die ganz praktischen Fragen der Übertragung des Amtes von Generation zu Generation. Zwar wird das Stück nicht während der tönenden Phasen permanent von Organisten gespielt, aber sie müssen doch nach gewisser Zeit Gewichte ab- und umhängen, die die Tasten beschweren. Eine Idee, die so außergewöhnlich ist, dass sie von vielen heute schon als Treppenwitz abgehandelt wird, kann leicht daran scheitern, dass irgendwann – sei es in fünf Jahren, sei es in zweihundert – kein Sinn mehr in der Sache gesehen wird.
Leicht auch kann als vermessen angesehen werden, dem Komponisten John Cage eine Bedeutung zuzuschreiben, die weit über jeden bisherigen Klassikerstatus hinausgeht (kein Zeitgenosse Mozarts hätte sich wohl angemaßt, dessen Musik eine so lange Wirkung zu prophezeien). Kann oder soll überhaupt garantiert werden, dass über Cage noch in zwei-, drei- oder fünfhundert Jahren geredet wird? Widerspricht dies nicht den anarchistischen Vorstellungen Cages, zu denen auch die Idee von der Abschaffung des Komponisten im herkömmlichen Sinne gehörte? Ritualisiert Halberstadt nicht die anmaßende Vorstellung vom Ewigkeitscharakter »ernster« Musik in einem Maße, an das seit mindestens fünfzig Jahren kein ernstzunehmender Musikwissenschaftler mehr glaubt?
Eine andere, sehr treuherzige Idee begleitet die Aufführung von Organ2/ASLSP, eine Idee, die vielleicht viel wichtiger ist, als die Frage nach der langfristigen Vermittelbarkeit ästhetischer Konzepte: 639 Jahre Aufführungsdauer setzen zumindest dem Gestus nach voraus, dass die Kirche so lange stehen wird, dass also kein Krieg und auch keine Katastrophe in diesem Zeitraum stattfinden wird.
Angesichts ökologischer Prognosen ist dies je nach Lesart naiv, utopisch oder ignorant. Genau darin steckt aber auch die Faszination des Halberstadt-Projekts: Die bürgerliche Idee von der Dauerhaftigkeit der Kunst, idealistische Vorstellung, die Werke im Sinne von Ideen könnten jegliches irdische Auf und Ab überstehen, ist in Halberstadt zur Karikatur überzeichnet worden. Ob bewußt oder nicht setzt sie die Kunst noch einmal symbolisch als Garanten für den »ewigen Frieden«. Bürgerlich eskapistisch reduziert sich da politische Zukunft auf den Akt eines künstlerischen Rituals, das Werk möge doch Unheil abwenden. Eine solche Transformation des Utopischen in die Kunst, auf dass wenigstens das Werk die Idee zum Besseren weiterträgt, ist einerseits so alt wie die bürgerliche Kunstvorstellung, die das Werk von seinem Tauschwert losgelöst in den Bereich des Immateriellen oder Transmateriellen erhob, und bekommt zugleich in Halberstadt eine überspitzte Variante: Hinter der Cageschen Stille und Gelassenheit ist zugleich etwas von Panik zu spüren.
Wie anders als panisch läßt sich erklären, dass hier wider alle Vernunft eine Aufführung das Versprechen wagt, die Menschheit werde noch mindestens 639 Jahre existieren, Deutschland von Kriegen verschont und zu allem auch noch John Cage ein nachvollziehbarer künstlerischer Maßstab bleiben? – Nie zuvor ist Musik so viel Zukunft zugeschrieben worden. John Cage, in den Sechzigern in die Fluxus- und Happening-Bewegungen involviert, die das Flüchtige gegen den Anspruch von Dauer in die Kunst einführten, wird da eine geradezu gespenstische Dauer eingeräumt –
gespenstisch fahles, bürgerliches Äquivalent zum blassen Lenin im Mausoleum.
Wie jede panische Geste, die sich gegen das Verschwinden richtet, hat die Aufführung von Organ2/ ASLSP aber auch etwas Rührendes. Während in den Feuilletons ein Kulturpessimismus tobt, der in Big Brother das Ende des Privaten und in Hannibal die Rückkehr des Abendlandes zu kannibalischen Instinkten sieht, um daraufhin schlimmstenfalls eine neue »Leitkultur« einzuklagen, markiert das Cage-Projekt zumindest nach außen hin ein gelassenes Lächeln gegenüber allen Untergangs- und Verfalls-Prognosen. Dass Cage alle Big Brothers und Hannibals ebenso wie sämtliche »Leitkultur«-Debatten überleben wird, entspringt zwar als Gedanke einerseits genau dieser Angst vorm Werteverfall, ist aber andererseits als Prognose nicht das Schlimmste, was sich denken läßt, sondern ein gutgemeintes Angebot, in antimodernistischen und revanchistischen Zeiten der Moderne doch den längeren Atem einzuräumen.
Der Text erschien zuerst in testcard #10: Zukunftsmusik, 2001
Martin Büsser ist am 23. September 2010 verstorben.
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