Der Beamte als Visionär
Rückblick auf ein Diskursspektakel namens Sarrazin
Von all dem, was einem hierzulande schon alles so als politische Kontroverse verkauft worden ist, gehörte die so genannte Sarrazin-Debatte sicherlich zu den gespenstischsten. Kein inhaltlicher Schlagabtausch, der einem im Gedächtnis geblieben wäre, kein Beitrag zur Diskussion, den man gerne noch einmal nachlesen würde; statt pointierter Thesen und geschliffener Entgegnungen blieb aus den zahllosen Verlautbarungen einzig der immergleiche Tonfall staatsmännischer Besorgnis haften. Allerorten beteuerte man, die von Sarrazin angesprochenen Probleme selbstverständlich »nicht in Abrede« stellen zu wollen, hob dabei aber auch mahnend den Zeigefinger, dass eine allzu »einseitige Herangehensweise« bei deren Behebung ganz und gar »nicht hilfreich« sei.
Für nationale Aussprachen gilt das olympische Motto: Dabeisein ist alles. Jeder tat, was von ihm erwartet wurde. Allen voran, als treuer Diener des allgemeinen Wohls, der Protagonist selbst. Weil die Landsleute nun einmal lieber über Kultur als über Klassenkampf plaudern, garnierte er seine Forderungen nach Bekämpfung der Unproduktiven mit einigen Diskursbröckchen über »Kopftuchmädchen«, muslimische Fertilität und migrantische Intelligenzdefizite. So konnten sich dann alle darauf kaprizieren, dass an Sarrazins Intervention ausgerechnet die »Islamkritik« das entscheidende sei. Gerade auch dessen erklärte Gegner. Statt gegen die Enteignung der Entrechteten vorzugehen, verteidigen sie lieber deren Identität; denn schlimmer als der Angriff auf den Geldbeutel, so scheint es, wiegt allemal der Angriff auf die religiöse Ehre. Wo es um »Integration« geht, sind Deutsche halt in ihrem Element.
Weil alle Beteiligten gewissermaßen unter einer Decke steckten, konnten die Fronten dieser Phantomdebatte auch nur heillos verlaufen. Ein verbeamteter Gobineau, der zum Sturm auf die parasitären Unterschichten bläst, erklärte sein Degenerationsgefasel zur Fortsetzung des Godesberger Programms mit anderen Mitteln – zum Wohlgefallen von liberalen Sturmgeschützen wie Henryk M. Broder, Pro Köln und Necla Kelek. Und während letztere noch eilfertig darüber aufklärte, wie gut die Bundesrepublik daran getan hätte, sie gar nicht erst ins Land zu lassen1, ergriff die staatstragende Antifa routiniert die Gelegenheit, einmal mehr »den Anfängen wehren« und gegen einen »rechten Backlash« mobil machen zu können – bloß dass dem der linke Widerpart fehlte, dessen Bastionen es zu schleifen gilt. Diese Rolle übernahm dafür ersatzweise die Kanzlerin, der, im Generalanzeiger der deutschen Bourgeoisie, Schirrmacher zunächst zur Seite sprang, um dann kurz darauf die »Kälte der Macht« zu geißeln: Merkel, musste er entsetzt feststellen, hatte das Buch ja gar nicht gelesen. Unterstützung fand der smarte Konservative wiederum bei einem Sozialdemokraten von altem Schrot und Korn, Klaus von Dohnanyi, welcher anlässlich der Verfolgung Sarrazins mahnend eines früheren Opfers des antifaschistischen Gesinnungsterrors gedachte.2 Und während die Eliten auf Sarrazins Schmeicheleien eher zurückhaltend reagierten, waren es genau die, deren Enteignung er forderte, die ihn am liebsten zu ihrem neuen Führer gekürt hätten: Denn wenn einer in Deutschland auf den Tisch haut, um »Klartext« zu reden, qualifiziert er sich automatisch zum Anwalt des kleinen Mannes.
Viel Geblöke also, dafür aber mit umso unschärferen Konturen. Kein Wunder, dass es inzwischen schwer fällt, sich mehr als vage zu erinnern, worum es dabei eigentlich noch ging; nicht mehr lange, und die ganze Aufregung ist vollends in den Weiten des kollektiven Unbewussten versickert. Grund genug, dem Urheber des ganzen Schwachsinns ein letztes Mal das Wort zu erteilen: Denn das wenige, was über Sarrazin zu sagen ist, sagt keiner besser als Sarrazin selbst.
Und am besten in einem einzigen Satz. »Wenn man dem Staat so lange dient«, bekannte er der Presse, »bleibt es nicht aus, dass man ihn liebt – und das Staatsvolk auch.«3 Vorbei die Zeiten, als selbst hiesige Amtsinhaber sich derlei Intimitäten verbaten und, wie Gustav Heinemann, den Bescheid erteilten, sie liebten nicht den Staat, sondern ihre Frau. Ein deutscher Beamter kennt keinen Widerspruch von Neigung und Pflicht. Aus seinem Herzen macht der autoritäre Charakter keine Mördergrube mehr: Sein Sehnen gilt weder Geist noch Geschlecht, sondern der Institution; die Menschen, selbst die zum Staatsvolk homogenisierten, sind da nur die notwendige Dreingabe.
Wem das noch nicht genug ist, für den gibt es immer noch Deutschland schafft sich ab. Zum Glück braucht den dicken Wälzer keiner ganz zu lesen. Denn inmitten der deprimierenden Ausblicke auf Verdummung, Sittenzerfall und allgemeinen Niedergang hat der Autor es doch geschickt verstanden, einzelne Mutmacher, wahre pièces de resistance, einzuflechten. An diese wollen wir uns halten. Der erste, ein kurzer, besonnter Blick zurück auf die Wurzeln, findet sich bereits in der Einleitung:
Die Bundesrepublik der frühen fünfziger Jahre war ein sehr modernes Staatswesen. Nach den zwei verlorenen Kriegen hatten sich katastrophale Folgen gezeigt: Die Institutionen waren zerstört, die Traditionen in Frage gestellt und die Bevölkerung durch Flucht und Vertreibung durcheinandergewirbelt. Doch die spezifisch deutschen Stärken – ein hoher Standard in Wissenschaft, Bildung und Ausbildung, eine leistungsfähige Wirtschaft und eine qualifizierte Bürokratie – waren durch die Katastrophe des Krieges und die Zerstörung der Infrastruktur erstaunlich wenig beeinträchtigt worden. Die Angehörigen der Führungsschichten und der Bürokratie waren zu 90 Prozent willige Helfer der Nazidiktatur gewesen; das wirkte sich aber keineswegs auf ihre Effizienz beim Wiederaufbau aus.
Ganz und gar ungebrochen und durch die Katastrophe und die Chance zum Wiederaufbau sogar noch angestachelt waren der traditionelle deutsche Fleiß und der Hang zum Tüfteln und Verbessern. Gerade die Flüchtlinge und Vertriebenen taten sich hier hervor. Sie waren in derselben Situation wie die Auswanderer des 19. Jahrhunderts in den Vereinigten Staaten, nämlich fremd und mittellos, und sie konnten nur mit besonderem Fleiß vorankommen. Und sie waren fleißig, so fleißig, dass sie den Alteingesessenen in der jungen Bundesrepublik bald kräftig Beine machten.4
Mit dem zweiten, Sarrazins Traum von einer besseren Zukunft, schließlich endet das Werk:
Seit dem Jahre 2010 beunruhigten die wachsenden Erfolge rechtspopulistischer Parteien die etablierten Parteien und Regierungen in ganz Europa.
Der Wiederaufschwung nach der Rezession 2008/09 war schwächlich geblieben und hatte sich über viele Jahre mühsam dahingeschleppt. Die Völker hatten Angst um ihren Lebensstandard. Es offenbarte sich zusehends, dass die Außengrenzen des Schengen-Raumes löchrig waren: Die Migration in die europäischen Sozialsysteme aus dem Nahen und Mittleren Osten sowie aus Afrika nach Europa nahm stetig zu.
Im Mai 2013, wenige Monate vor der Bundestagswahl, gelang einem unentdeckt gebliebenen Zweig der Sauerlandgruppe ein Sprengstoffattentat am Bahnhof Zoo in Berlin, das 73 Opfer forderte. Nach ähnlichen Anschlägen kurze Zeit später in Paris und Rom trat der Europäische Rat zu einer Sondersitzung zusammen und beschloss neben vielen anderen Maßnahmen grundlegende Änderungen bei der Überwachung der Außengrenzen des Schengen-Raumes sowie eine Europäische Richtlinie zum einheitlichen Umgang mit illegal Einreisenden. Alle Mitglieder verpflichteten sich, die neuen Bestimmungen innerhalb eines Jahres in Kraft zu setzen. Diese Maßnahmen, die mehrfach verschärft wurden, führten allmählich zu einem Rückgang der illegalen Zuwanderung auf unter 100 000 jährlich für die gesamte Union.
Die im September 2013 neu gewählte Bundesregierung setze in ihrer Koalitionsvereinbarung neue Akzente zur Weiterentwicklung in der Familien-, Integrations- und Bildungspolitik:
Eine Kombination familienpolitischer Maßnahmen, bei denen immer wieder nachgesteuert wurde, führte dazu, dass im Lauf von zehn Jahren die Zahl der Geburten pro Frau wieder auf 2,1 stieg, ein Niveau, das zuletzt Mitte der 1960er Jahre erreicht worden war. Besonders erfreut zeigte man sich, dass der Anteil der Geburten von Frauen mit mittlerem und hohem Bildungsstand deutlich stieg. Die auf diese Gruppe zielenden Maßnahmen waren besonders umstritten gewesen und wurden immer wieder als sozial ungerecht kritisiert.
Die Regeln für den Familiennachzug wurden verschärft. Als besonders wirksam erwiesen sich die strengeren Anforderungen in Bezug auf die Deutschkenntnisse und die Bestimmung, dass nachgereiste Familienangehörige zehn Jahre lang keinen Anspruch auf deutsche Sozialleistungen hatten. Zudem mussten die aufnehmenden Familien so ausreichende Einkünfte aus Arbeit und Vermögen vorweisen, dass der Lebensunterhalt der Eingereisten gesichert war. Der Familiennachzug ging daraufhin stark zurück.
Ganztagsschulen und Ganztagskindergärten wurden flächendeckend eingeführt. Damit verbunden war die Ausgabe eines unentgeltlichen Mittagessens an jedes Kind. Für den Bezug von Kinderzuschlägen in der Grundsicherung und von Kindergeld war Voraussetzung, dass die Kinder diese Einrichtungen tatsächlich besuchten. Jedes unentschuldigte Fehlen, auch wenn es sich nur um wenige Stunden oder einen Tag handelte, führte zu scharfen Abzügen.
Für Migrantenkinder stand in Kita und Schule der Erwerb der deutschen Sprache im Mittelpunkt. Diese wurde verbindliche Verkehrssprache in allen staatlichen oder staatlich geförderten Bildungseinrichtungen. In allen Einrichtungen wurden alljährlich für jede Altersstufe bundeseinheitliche Sprachstandardtests durchgeführt. Das Ranking floss ein in die Bemessung der staatlichen Mittelzuweisung. Einrichtungen, die die Anforderungen mehrfach nicht erfüllten, wurden aufgelöst oder verloren den Anspruch auf staatliche Förderung.
An den Grundschulen wurden die jahrgangsbezogenen Curricula für Deutsch und Mathematik vereinheitlicht und dem Niveau des Jahres 1970 angepasst. Dies führte zu einem Aufschrei der Lehrerverbände vor allem in Berlin, Hamburg und Bremen. Auch die Erfüllung dieser Standards wurde jedes Jahr in einem bundesweiten Test überprüft und die daraufhin erstellte bundesweite Rankingtabelle veröffentlicht. Alle Kinder, die die Standards nicht erfüllten, erhielten eine verbindliche Sonderförderung.
Die Erfolge aller dieser Maßnahmen zeigten sich nach einem Jahrzehnt. Die Zahl der Schüler in Deutschland wuchs, und offenbar wurden sie auch wieder klüger. Beim Pisa-Test war Deutschland gegenüber dem OECD-Durchschnitt jahrelang deutlich zurückgefallen. Dies änderte sich stufenweise von 2025 an. Deutschland holte wieder auf.
Auch der Abwärtstrend im Bevölkerungswachstum konnte gestoppt werden. In den folgenden Jahrzehnten blieb die Bevölkerungszahl stabil. Die Geburtenrate pendelte zwischen 2,0 und 2,2 Kindern pro Frau. Die Revisionen in der Familien- und Sozialpolitik, bei denen wiederholt nachgesteuert worden war, hatten dazu geführt, dass die Schichten mit höherer Bildung sogar eine leicht überdurchschnittliche Fruchtbarkeit aufwiesen. Der Anteil junger Menschen an der Bevölkerung stieg wieder stetig, nachdem die geburtenstarken Jahrgänge aus den 1960er Jahren das neunte Lebensjahrzehnt erreicht hatten und altersbedingt schnell abnahmen.
Bei den Migranten aus Nah- und Mittelost sowie aus Afrika hatten die Reformen bei den Sozialtransfers in wenigen Jahren dazu geführt, dass deren Fruchtbarkeit unter den bundesdeutschen Durchschnitt sank. Die scharfen Sanktionen gegen Bildungsverweigerer taten ein Übriges. Befreiungen vom Sport- und Schwimmunterricht aus religiösen Gründen waren 2030 durch einen Beschluss der Kultusministerkonferenz untersagt worden. Bereits 2020 waren Schuluniformen eingeführt und ein Kopftuchverbot ausgesprochen worden.
In den klassischen Migrantenvierteln sah man immer weniger Frauen mit Kopftuch. Das lag auch an den dort sinkenden Einwohnerzahlen. Der geringe Familiennachzug, das Ausbleiben von Wohlstandsflüchtlingen und der anhaltende Fortzug der wirtschaftlich Erfolgreichen machten sich von 2040 an immer deutlicher bemerkbar: Die Migrantenquartiere der Großstädte schrumpften, und man hörte immer weniger Türkisch und Arabisch auf den Straßen.
Die Integration schien vollzogen. Historiker sahen darin eine Parallele zur Integration der polnischen Zuwanderer im Ruhrgebiet in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. So wie damals blieben als wesentliche Erinnerung nur die ausländisch klingenden Namen einiger prominenter Fußballer.
Soweit die beiden Szenarien. Auch das tragische hat seine humoreske Seite, und die Wirklichkeit schreibt bekanntlich die besten Satiren. Es gibt für die Politik dringenden Anlass zum Handeln. Möglichkeiten und Ansatzpunkte gibt es auch, dieses Buch soll dazu einen Beitrag liefern. Mit den Worten einer untergegangenen Sprache rufe ich der Politik zu:
Hic Rhodus, hic salta!5
***
Dem ist wenig hinzuzufügen. Halten wir uns daher nicht lange mit dem irrwitzigen Versuch auf, die USA zu einer Art frühem Block der Heimatvertriebenen und Entrechteten aufzunorden, und bestaunen lieber die Nonchalance, mit der der Autor die institutionellen Säulen der Judenvernichtung für ihre spezifisch deutschen Stärken preist – oder die Finesse, mit der er statt von Armuts- lieber von Wohlstandsflüchtlingen spricht, ganz als hätten wir es, wie weiland im Falle von Berti Vogts’ »Wohlstandsjünglingen«, mit von zu viel Saus und Braus und Wohlleben verdorbenen Bengels zu tun. Man merkt: Hier ist einer in seinem Metier; hier kann einer von scharfen Abzügen und Sanktionen, von Sprachstandardtests und verbindlicher Sonderförderung gar nicht genug bekommen; hier darf die Liebe zum Staat sich in Gestalt von Maßnahmen, Bestimmungen und einheitlichem Umgang, von Statistiken, Planziffern und Bevölkerungszahlen einmal ganz unverblümt aussprechen. Nichts kennzeichnet dabei Sarrazins libidinöse Besetzung staatlicher Ordnungsinstrumente besser als seine Obsession mit der Fruchtbarkeit: die Verzückung, mit der er von der Erhöhung der Geburtenrate auf 2,0, auf 2,1 oder gar auf 2,2 schwärmt, und das doppelt beschworene Nachsteuern, welches den Schlüssel dazu darstellen soll.6 Er kann eben dem Volk gar nicht dicht genug auf die Pelle rücken. Der Staat als Kuppler, der die Intimsphäre der Bürger solange nachjustiert, bis der Akt vollzogen und der Orgasmus produktiv genutzt worden ist – das ist die schmutzige Phantasie, an der sich der überschnappende Gesellschaftsplaner endgültig berauschen kann.
Sie bezeichnet zugleich jedoch seine Grenzen als kommender starker Mann. Wenn die diversen linken Sekten gegen Sarrazin als einen »Neoliberalen« mobilisieren, liegen sie, wie so oft, daneben. Von den üblichen Phrasen autoritärer Deregulierungsfanatiker – für Flexibilität und Innovationsbereitschaft, gegen Lohnnebenkosten und verkrustete Strukturen – hat er keine einzige im Angebot. Überhaupt fehlt in Sarrazins rosigem Zukunftstraum all das, was selbst der dümmste Politiker seinen Wählern versprechen würde. Er protzt weder mit Vollbeschäftigung und starker Währung noch mit Exporttriumphen von »Made in Germany«. Seine Wunschwelt scheint einfach keinen Weltmarkt zu kennen; und wenn man es recht besieht, noch nicht mal ein Ausland. (Weshalb an dem Gerücht, Sarrazin betreibe eine grundsätzliche »Islamkritik«, auch so schrecklich wenig dran ist. Was despotische Patriarchen oder fanatisierte Gotteskrieger im Namen Allahs anzurichten in der Lage sind, interessiert ihn nicht die Bohne, solange sie es nur nicht in Deutschland tun. Als fürchterliches Schreckbild einer dystopischen Zukunft fungiert bei ihm nicht die iranische Atombombe, sondern die Umwidmung des Kölner Doms in eine Moschee.)
Sarrazin hat schon Recht damit, dass er nach wie vor in die SPD gehört: Er ist zwar ein wildgewordener Kleinbürger, aber vor allem ein wildgewordener etatistischer Ordnungspolitiker. Und so einer, wissen die besseren Kreise aus FAZ und Bundesregierung, ist den Chefetagen multinationaler Konzerne einfach nicht zuzumuten; da müsste es schon etwas Smarteres, Weltläufigeres sein.
Freilich ist das nur die halbe Wahrheit. Was die Merkels und Ackermanns auf Distanz gehen lässt, seine Altbackenheit, macht ihn für die vielen, die er an die Kandare nehmen will, gerade erst beliebt. Auch sie haben ja das Gefühl, nicht recht mitzukommen; da ist es tröstlich, wenn ihnen einer die glorreiche Zukunft – den Fleiß der 50er, die Geburtenrate der 60er und die Bildungsstandards der 70er – in den Koordinaten der Vergangenheit auspinselt.
Dass ihr Held dabei zugleich auf Elite macht, steht dem Erfolg beim Pöbel nicht im Weg, sondern bedingt ihn. Denn die Elite, wie Sarrazin sie zeichnet, ist ja eine, der es kaum anders ergeht als dem kleinen Mann von der Straße: Sie weiß mit sich nichts anzufangen und will doch um jeden Preis so bleiben, wie sie ist. Dass die Verhältnisse solche sind, in die selbst die darin Privilegierten kaum mehr Kinder setzen wollen, bringt die Sarrazins dieser Welt nicht ins Grübeln, sondern nur auf den Gedanken, ein paar tausend Euro zusätzliches Kindergeld erpressen zu wollen. Weil sie selber keine Wünsche und keine Hoffnungen mehr haben, richten sie alle ihre Energien darauf, dass es anderen wenigstens nicht besser gehen möge: aufs Schurigeln um des Schurigeln willens. Was Sarrazin anbietet, ist, mit einem Wort, der Einstand von Pöbel und Lumpenbourgeoisie.
Der Unterschied zwischen Pöbel und Lumpenbourgeoisie ist bloß, dass ersterer zwar nichts, letztere aber doch wenigstens etwas zu sagen hat. Fraglich, ob es ihr auf Dauer genügen wird, sich, wie von Sarrazin vorgemacht, im Glanz des eigenen Genpools zu sonnen. Einen Hinweis, wohin die Reise dann gehen könnte, gibt schon der Titel des in Rede stehenden Buches. »Deutschland schafft sich ab« ist ja nicht einfach larmoyantes Gejammer, sondern zugleich Verheißung; umso mehr, als Sarrazin ja selbst, als Schmock mit Hang zu untergegangenen Sprachen, mit der Freude am Zerfall kokettiert. Herrschende Klasse hieß in Deutschland, dem Land der gescheiterten bürgerlichen Revolutionen, ja immer schon: herrschen, ohne zu wissen, wozu; woraus die Neigung erwuchs, in maßloser Herrschsucht zuletzt auch die eigenen Institutionen zu Klump zu hauen.
Womöglich erklärt sich daraus auch das merkwürdigste Detail der sarrazinschen Zukunftsvision. Denn der erträumte Anschlag, der für eine Umkehr in der Bildungs- und Migrationspolitik sorgt und damit alles noch einmal zum Guten wendet, wird nicht von Al-Qaida oder dem »Islamischen Djihad« verübt, sondern von einem unentdeckt gebliebenen Zweig der Sauerlandgruppe – von keinen Fremden also, sondern konvertierten Landsleuten. Vielleicht, weil es sich dabei um die ultimative patriotische Tat handelt. Denn wenn erst einmal Krise herrscht, gewinnen nicht nur die pfennigfuchserischen Lebensmittelrationen, die Sarrazin mit zwangsneurotischer Leidenschaft punkt- und kaloriengenau durchrechnet, endlich einen evidenten Sinn. Nicht umsonst verweist Sarrazin ja eingangs auf die vorbildlichen 50er Jahre. Im kapitalistischen Normalbetrieb mag mit Fleiß, Erfindungsgeist und all den anderen preußischen Tugenden, die Sarrazin seiner Elite an die Brust steckt, kaum auch nur ein Blumentopf zu gewinnen sein. Wo aber, inmitten von Chaos und Zerstörung, Wiederaufbau angesagt ist, können sie sich wieder so recht bewähren. Was deutsch ist, triumphiert am konsequentesten unter Bedingungen konsequenter Entgesellschaftung.
Ein gelinder Trost also, dass Sarrazin vorerst schon wieder im gnädigem Vergessen versunken ist. Aber das nächste Spektakel kommt bestimmt.
ANMERKUNGEN
1) http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/thema/1260764/
2) »Der öffentliche Reflex erinnert an die beschämende Behandlung von Martin Walser, als sich 1998 nach seiner Rede zwar die Paulskirche zu Ovationen erhob, doch dieselbe, die Zivilcourage ständig beweihräuchernde Gesellschaft, war nicht mehr zu hören, als Ignatz Bubis, Vorsitzender des Zentralrats der Juden, gegen den Schriftsteller seinen Bannfluch ›geistiger Brandstifter‹ ausgestoßen hatte.« (http://www.sueddeutsche.de/politik/debatte-um-thilo-sarrazin-feigheit-vor-dem-wort-1.996129)
3) http://www.welt.de/politik/deutschland/article9515854/Sarrazin-in-Potsdam-Thilo-ist-einer-von-uns.html
4) Thilo Sarrazin, Deutschland schafft sich ab, München 2010, 9. Aufl., S. 14f.
5) A.a.O., S. 404-408
6) In diesen Zusammenhang bizarrer Zahlengeilheit gehören auch die Speisepläne, die Sarrazin (S. 117) den Sozialhilfeempfängern zusammenstellt, um vorzurechnen, sie könnten, mit einer halben statt einer ganzen Gurke und der Beschränkung auf 130g Leberkäse doch viel billiger satt werden als vom Regelsatz vorgesehen.
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