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Mai, 2019:
Ausgabe #10 ist erschienen

Sonja Witte

Illusion, Wahrheit, Wirklichkeit:

Religion als Symptom – Psychoanalytisches Miniaturbild des Materialismus


Die wahre Zivilisation liegt nicht im Tischrücken.

Baudelaire

Im Mai ist Kirchentag in Bremen - »Alle zwei Jahre versetzt der Kirchentag eine deutsche Stadt in Ausnahmezustand. Rund 100.000 Menschen feiern das Fest des Glaubens, die meisten von ihnen sind unter 30. [...] Derzeit beweisen die Christentreffen, dass eine beherzte Spiritualität auch dem verkopften Protestantismus gut ansteht.«1 100.000 versetzen mit aus unter dreißigjährigen Köpfen gelassener Spiritualität eine Stadt in den Ausnahmezustand ... wer das nicht miterleben möchte: unter angegebener website kann Kontakt zu den Beherzten aufgenommen werden, um für diese Zeit Wohnung gegen Urlaubsgeld zu tauschen.

Ansonsten wäre darüber nachzudenken, was in kritischer Absicht gegen religiösen Glauben eigentlich gesagt werden kann. Kritik an dem vor einem Jahr in Bremen gelaufenen Christival, dem Treffen evangelikaler Pubertierender, beschränkte sich größtenteils auf die ganz offensichtlich reaktionäre Propaganda2, die in Sachen Homophobie und sexistischem Frauenbild selbst bei einigen CDUlern auf Ablehnung stoßen würde. Nun geht es aber dieses Mal um Protestanten, die unter der Losung gerne wissen wollen: »Mensch, wo bist Du?« um, so die Kirchentagspräsidentin von Welck, »ein Zeichen [zu] setzen für Menschlichkeit in unserer Welt«3. Die Generalsekretärin Ueberschär betont, die Frage - »Mensch, wo bist Du?«, die erstmals Gott höchstpersönlich und zwar an Adam und Eva stellte - »markiere den Beginn der ‚Geschichte der Freiheit' [...]. Denn erst die freie Entscheidung über das Gute und das Böse ermögliche dem Menschen und verpflichte ihn dazu, Verantwortung für sein Leben und sein Handeln in der Welt zu tragen. Nur aus der Spannung zwischen Freiheit und Verantwortung erwachse ‚das großartige Gefühl, ein Mensch zu sein'«4 - Geschichte als ‚Geschichte der Freiheit', in der aus Zwang und Unterdrückung die ‚Spannung zwischen Freiheit und Verantwortung' und aus dem ganzen Scheiß das ‚großartige Gefühl, ein Mensch zu sein' gezogen wird... Ganz zu Recht schreibt die Gruppe »Kritik im Handgemenge«: »Religion steht eben feindselig zu einer vernünftigen Einrichtung der Welt, zur Ermittlung der Bedürfnisse der Menschen und Anstrengungen, und zum Versuch diese planvoll zu befriedigen.«5 Indem die Kirchentagsbesucher, trotz protestantischer Verkopfung, mit viel Herz glauben was das Zeug hält, verleihen sie einer offensichtlich unbeherzten Wirklichkeit und dem, was ihnen in dieser angetan wird und sie anderen antun, spirituelle Würde.

Zum Grundstock des Allgemeinwissens gehört allemal, weiß man auch sonst nichts über Marx, dass er Religion für das Opium des Volkes halte. Wie selbstverständlich, so meint das Allgemein- als Halbwissen (Adorno), scheint die Metapher des Opiums die Religion gleichsam als geistige Nebelbombe auszuweisen, bei dessen Gebrauch sich im Körper zwar nicht - wie aus Vorabendserien bekannt - nach dem ersten Zug eine Totalabhängigkeit mit höchstwahrscheinlicher Todesfolge einstelle, wohl aber eine Demontage des Bewusstseins, infolgedessen der revolutionären Sprengkraft kritischen Gedankengutes die Basis entzogen sei. Wieso überhaupt?

Wenn man nicht davon ausgehen kann, dass Marx die Drogendesaster aus Marienhof und GZSZ im Kopf hatte und zu seiner Zeit sich das Opium, bevor es als ‚Volksdroge' vom Kaffee abgelöst wurde, als legales Genussmittel breiter Zusprache erfreute, statt Horrorszenarien vom Bahnhof Zoo in den Köpfen anzustoßen - was heißt das dann wiederum für die Marxsche Kritik der Religion?

Wenn das Opium nicht unweigerlich für ein Übel durch und durch zu stehen hat, steht es als solches auch nicht für das der Religion: »Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elendes und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend.«6 Religiöse müssen sich die Welt schöner denken als sie ist (hat diese doch Gottes Segen und wenn auch auf dieser nicht alles mit rechten Dingen zugeht, lockt zumindest noch Entschädigung im Himmelreich) und ist damit ‚Ausdruck des wirklichen Elends', einer Wirklichkeit, die der ‚Verschönerung' dringend bedarf. Als ‚Verschleierung' ist die Religion Ausdruck der Wirklichkeit und darin zugleich ‚Protestation': Im (Irr-)Glauben über die wirkliche Welt hält die Religion eine bessere Vorstellung von dieser bereit. Darin steckt die Möglichkeit der Wahrheit der Religion, die als solche geradewegs an der Wirklichkeit vorbeigeht und der daher selber ein ‚illusionäres' Moment innewohnt.

Im Folgenden soll es darum gehen, warum eine Religionskritik, die diesen Doppelcharakter der Religion nicht reflektiert, sondern das die Wirklichkeit verleugnende Moment einzig als ‚Denkfehler' begreift, zwar nicht die Religion, wohl aber die schlechte Wirklichkeit selbst affirmiert. Das, was an der Religion hochzuhalten wäre, nämlich dass sie - obgleich sie von der praktischen Veränderung absieht - als Illusion die Realität als Grauen eben nicht eins zu eins im Kopf des denkenden Subjekts verdoppelt, wird damit einkassiert und letztendlich Religionskritik als Drogentherapie der instrumentellen Vernunft betrieben.

Der mit Marx zitierte Doppelcharakter der Religion, die in der Verschleierung der schlechten Verhältnisse unreflektierter Ausdruck des Wunsches ist, diese mögen sich zum Besseren wenden, wird im Folgenden anhand Freud ausgeführt. Nicht noch einmal soll dabei versucht werden, Belegstellen dafür herbeizuzitieren, der Psychoanalyse eine Kompatibilität mit revolutionärem Gedankengut unterzuschieben. An der Abschaffung des gesellschaftlichen Zwangszusammenhangs (deren Voraussetzung beim frühen Marx u.a. in der Kritik der Religion festgestellt wurde) Interessierte werden in Freuds Religionskritik, beim Wort genommen, kaum Hilfreiches finden. Warum aber radikale Religionskritik etwas anderes zu sein hätte als Denkkorrektur im Namen des Realitätsprinzips, da diese als »Opium des Volkes« den gedanklichen Zugriff auf die Wirklichkeit verhindere und infolgedessen auch ihre Veränderung, wird im Folgenden anhand einer Kritik der Freudschen Religionskritik begründet.

I

»Alle bürgerliche Aufklärung ist sich einig in der Forderung nach Nüchternheit, Tatsachensinn, der rechten Einschätzung von Kräfteverhältnissen. Der Wunsch darf nicht Vater des Gedankens sein.«7

Mit der beginnenden Emanzipation des Bürgertums in der Neuzeit wurde das Wissen, das Denken selbst als Gegenstand der Wissenschaft neu verhandelt. Die Entwicklung neuer Methoden und neuer Instrumentarien in der gesamten Wissenschaft vollzog sich auf der Grundlage eines neuen Wissenschaftsverständnis - die von der antiken Philosophie bis ins Mittelalter etablierte Abgrenzung von Geist und praktischer Lebenswelt sollte überwunden werden und statt dessen die praktische Lebenswelt als Voraussetzung aber auch Objekt der Erkenntnis verstanden werden. Mit Beginn der Aufklärung war der Anspruch der Philosophie neu formuliert: der Verstand solle die äußere Wirklichkeit systematisieren und so ein getreues Abbild dieser darstellen - im Gegensatz zur antiken Metaphysik oder zu religiösen Dikta, die an der Priorität des Geistes vor der Beweiskraft empirischer Daten festhielten. »Damit war zugleich eine völlig neue Bewertung des Verhältnisses von theoretischer und praktischer Tätigkeit eingetreten: theoria und contemplatio, die vordem in der griechischen und mittelalterlichen Philosophie einem der menschlichen Praxis überlegenen Bereich zugehörten, sollten nun auf ihren praktisch verwertbaren Erkenntnisgehalt hin geprüft werden.«8 Als Kronzeuge der durch die Aufklärung eingeleiteten Wende tritt am Anfang der »Dialektik der Aufklärung« Francis Bacon auf. Ziel seiner Schrift »Novum Organum« aus dem 17.Jhd. ist die Entwicklung einer »wahren Logik«, die den Menschen Einsicht in die Ordnung der Natur ermöglichen soll, auf dass diese nutzbar für alle werde. Die adäquate Erkenntnis der Funktionszusammenhänge der Natur sieht Bacon durch bisher wirksame Götzenbilder oder Idole verhindert, die die Wahrnehmung des Menschen verfälschen würden. Dem Einfluss von Willen und gerade auch Gefühlen unterworfen, hielte der Mensch eher das für wahr, was er für wahr halten wolle. Bacon fordert eine wissenschaftliche Methode, die frei von wirksamen religiösen Götzenbildern und wissenschaftlichen Dogmatismen sich um Wahrheit der Erkenntnis bemüht und formuliert das Ziel der Aufklärung, so Horkheimer/ Adorno »von den Menschen die Furcht zu nehmen und sie als Herren einzusetzen. [...] Das Programm der Aufklärung war die Entzauberung der Welt. Sie wollte die Mythen auflösen und Einbildung durch Wissen stürzen.«9 Ebenso knüpft auch Ludwig Feuerbachs Religionskritik im 19. Jhd. an Bacon an. Feuerbach interpretiert die Religion als eine Projektion von Wünschen und Sehnsüchten des Menschen auf ein göttliches Wesen. In der göttlichen Gestalt verleiblichten sich die Sehnsüchte, ohne dass dieser projektive Vorgang dem Menschen bewusst sei. Der Glaube an Gott entspreche einer unterentwickelteren, »kindlichen« Stufe der Menschheit, die mit der Einsicht in den projektiven Gehalt des Glaubens überwunden werden könne. So werde die Voraussetzung dafür geschaffen, dass die Menschen selbsttätig ihre Wünsche und Hoffnungen verwirklichen könnten. »Und unsere Aufgabe ist es eben, nachzuweisen, daß der Gegensatz des Göttlichen und Menschlichen ein illusorischer, d.h. daß er nichts andres ist als der Gegensatz zwischen dem menschlichen Wesen und dem menschlichen Individuum, daß folglich auch der Gegenstand und Inhalt der christlichen Religion ein durchaus menschlicher ist.«10 Und ebenso argumentiert Freud: in der »Psychopathologie des Alltagslebens«11 verwirft er die Idee eines allmächtigen Gottes im Himmel als metaphysische Dönnekens, mittels der Psychoanalyse sei vielmehr die Metaphysik in Metapsychologie umzusetzen, die Religion als Projektion eigener Wünsche zu begreifen. Zudem parallelisiert er in seiner Vorlesung »Über eine Weltanschauung« - ebenso wie Feuerbach - die Religion als ein dem gegenwärtigen Stand menschlicher Entwicklung nicht adäquate Weltauffassung: »Religion ist ein Versuch, die Sinneswelt, in die wir gestellt sind, mittels der Wunschwelt zu bewältigen [...]. Aber sie kann es nicht leisten. Ihre Lehren tragen das Gepräge der Zeiten, in denen sie entstanden sind, der unwissenden Kinderzeiten der Menschheit.«12 Freud setzt hier die individuelle Entwicklung in Analogie zur Entwicklung der Menschheit. Religion entstand in der Kindheit der Menschheit, die Aufklärung entspricht dem Erwachsenenalter. »Der Mensch kann nicht ewig Kind bleiben, er muß endlich hinaus ins ‚feindliche Leben'. Man darf das ‚die Erziehung zur Realität' heißen, brauche ich Ihnen noch zu verraten, daß es die einzige Absicht meiner Schrift ist, auf die Notwendigkeit dieses Fortschritts aufmerksam zu machen?«13 In der metaphorischen Übertragung der individuellen Entwicklung vom Kind zum Erwachsenen auf die Entwicklung der Gattungsgeschichte der Menschheit unterstellt Freud beiden Prozessen das Ziel der Reife: individuelle wie kollektive Geschichte startet in der Irrationalität, der Wunschwelt und endet in der rationalen, wissenschaftlichen Weltanschauung.

Der grundlegende Unterschied zwischen dem religiösen und dem wissenschaftlichen Weltbezug besteht nach Freud darin, dass dem Gläubigen die Welt gemäß seinen Wünschen erscheint, während ein rationaler, wissenschaftlicher Zugang vom eigenen Wunschdenken absieht und die Realität unabhängig von diesem zu erfassen versucht. Das Denken sucht, schreibt Freud, »die Übereinstimmung mit der Realität zu erreichen, d.h. mit dem, was außerhalb von uns, unabhängig von uns besteht und, wie uns die Erfahrung gelehrt hat, für die Erfüllung unserer Wünsche maßgebend ist. Diese Übereinstimmung mit der realen Außenwelt heißen wir Wahrheit.«14 Die Übereinstimmung des Denkens mit der Realität ist für die Erfüllung der Wünsche maßgebend, aber nicht hinreichend. »Dadurch daß er seine Erwartungen vom Jenseits abzieht und alle freigewordenen Kräfte auf das irdische Leben konzentriert, wird er wahrscheinlich erreichen können, daß das Leben für alle erträglich wird und die Kultur keinen mehr erdrückt. Dann wird er ohne Bedauern mit einem unserer Unglaubensgenossen sagen dürfen: Den Himmel überlassen wir - Den Engeln und den Spatzen.«15

Die Gestalt Gottes enthält für Freud im Wesentlichen die Projektion des Wunsches nach der Wiederkehr einer schützenden Vaterfigur der vergangenen Kindheit.16 Gott ist damit die kulturelle Gestalt eines unbewussten Wunsches. Denn, so Freud, die Existenz eines göttlichen Wesens entspricht nicht der Realität, sondern ist Ausdruck einer Wunschphantasie, die - wenn auch unzureichend - die Menschen mit Welterklärung, Trost und sozialen Handlungsanweisungen versorgt. Die Religion setzte der angsterregenden Abhängigkeit des Menschen von Natur und anderen die tröstende Illusion eines alten Mannes im Himmel entgegen, der darüber wacht, dass alles rechtens ist und spätestens nach dem Tod die Feinde straft und die Guten, also einen selber, belohnt.

Die Wissenschaft dagegen - so Freud, dem es um die Begründung der Anerkennung der Psychoanalyse als einer ihrer Disziplinen ging - verwendet das Denken nicht für Luftschlösser, sondern richtet das Denken zweckgerichtet ein. Die Emanzipation von der Naturgewalt versprechen die Naturwissenschaften, eine Minimierung des menschlichen Leids Ökonomie und Sozialwissenschaften. Die Einsicht in bestehende natürliche und gesellschaftliche Gesetzmäßigkeiten dient der praktischen Zielsetzung, der existierenden Abhängigkeit der Menschen realitätsgerecht zu begegnen und nach Maßgabe des Möglichen zu verbessern - so Freud. Die Behauptung der Existenz Gottes muss sich auf den Glauben stützen, denn mit der ratio kann sie nicht bewiesen werden - und das bedeutet Freud: Gottes Existenz kann keine Wahrheit beanspruchen. Wahrheit könne nur die aufgeklärte Wissenschaft beanspruchen, die vom irrationalen Wünschen absieht und versucht, mit dem Denken die Realität zu erfassen, d.h. das Bewusstsein in Übereinstimmung mit der Wirklichkeit zu bringen.

»Meine Damen und Herren! [...] Eine auf die Wissenschaft aufgebaute Weltanschauung hat außer der Betonung der realen Außenwelt wesentlich negative Züge, wie die Bescheidung zur Wahrheit, die Ablehnung der Illusionen. Wer von unseren Mitmenschen mit diesem Zustand der Dinge unzufrieden ist, wer zu seiner augenblicklichen Beschwichtigung mehr verlangt, der mag es sich beschaffen, wo er es findet. Wir werden es ihm nicht verübeln, können ihm nicht helfen, aber auch seinetwegen nicht anders denken.«17

Sowohl aufklärerisches Denken wie der religiöse Glaube haben demnach das gleiche Ziel: Wunscherfüllung. Im Unterschied zum Glauben, sehe das Denken vom Wunsche ab, um mittels der Rationalität die Wirklichkeit, wie sie ist, im Bewusstsein abzubilden (Wahrheit) um sie daraufhin gemäß des Wunsches verändern zu können oder aber einzusehen, dass der Wunsch sich nicht verwirklichen lasse. Der Glaube hingegen, so Freud, ist Ausdruck des Wunsches - dem Religiösen erscheint die Wirklichkeit in Gestalt des Wunsches und stellt als Glaube eine phantasmatische Wunscherfüllung dar (Illusion).

Im Folgenden wird gegen diese Freudsche Unterscheidung zwischen reinem Denken und illusorischem Wünschen die ebenso Freudsche Auffassung des Symptoms ins Feld geführt: An diesem zeigt sich die Wunscherfüllung nicht nur als Ziel, sondern auch als Movens des Denkens - die Wahrheit liegt infolgedessen nicht mehr in der Identität von Denken und Wirklichkeit und ist damit nicht mehr das Gegenteil der Religion als Illusion. Wohin das - nämlich den religionskritiksch-wissenschaftsgläubigen Freud gegen einen Freud des unbewussten Wunsches im Symptom zu lesen - wiederum führt, zeigt sich im dritten Teil.

II

Die Marxsche Auffassung, die Religion sei »Ausdruck des wirklichen Elendes und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend« lässt sich mit Freud auf den Seelenhaushalt des Gläubigen übersetzen: die Religion ist Ausdruck einer Wunscherfüllung (infantiler Wunsch nach väterlichem Schutz) und einer Abwehr (illusorischer Trost für die Fährnisse des Lebens und Bannung des Schreckens der Naturgewalten). Ebenso wie im religiösen Glauben treffen auch im neurotischen Symptom Wunsch und Abwehr zusammen. Der infantile, verdrängte Konflikt aus der Vergangenheit äußert sich in der Gegenwart in Symptomen, die eine Kompromissbildung zwischen unbewusstem Wunsch und seiner Abwehr darstellen. So kommt Freud dazu »die Zwangsneurose als pathologisches Gegenstück zur Religionsbildung aufzufassen, die Neurose als eine individuelle Religiosität, die Religion als eine universelle Zwangsneurose zu bezeichnen«18.

Schlagen wir aber zunächst einen Umweg über das Symptom um die Religion herum ein. Freud hatte eine Bekannte, deren Stubenmädchen täglich unter folgender ihrer Schacken zu leiden hatte: Sie wurde einmal am Tag von ihrer Hausherrin in ein bestimmtes Zimmer gerufen um einen komplett unsinnigen oder gar keinen Auftrag zu bekommen.

Sooft Freud fragte: »Warum tun Sie das? Was hat das für einen Sinn? - hatte sie geantwortet: Ich weiß es nicht.«19 Schließlich aber erinnerte sich die Frau an ihre Hochzeitsnacht zehn Jahre zuvor, in der sich die Impotenz ihres Mannes herausgestellt hatte:

 »Er war ungezählte Male in dieser Nacht aus seinem Zimmer in ihres gelaufen, um den Versuch zu wiederholen, aber jedes Mal erfolglos. Am Morgen sagte er ärgerlich: da muß man sich ja vor dem Stubenmädchen schämen, wenn sie das Bett macht, ergriff eine Flasche roter Tinte, die zufällig im Zimmer war, und goß ihren Inhalt aufs Bettuch, aber nicht gerade auf eine Stelle, die ein Anrecht auf einen solchen Fleck gehabt hätte.«20 Nun, das wichtige Detail, das die Drangsalierung des Stubenmädchens mit der gescheiterten Entjungferung verbindet, war ein Fleck auf dem Tischtuch, auf den der Blick des Stubenmädchens fiel - es fand sich also »für eine sinnlose Idee und eine zwecklose Handlung jene vergangene Situation [...], in welcher die Idee gerechtfertigt und die Handlung zweckentsprechend war.«21 Das Symptom gibt über das Ziel der Zwangshandlung Auskunft, die in der Realität sich ereignet habende Kränkung in der Inszenierung der Wunscherfüllung ungeschehen zu machen. Insofern handelt es sich bei der Zwangsneurose um eine individuelle Religiosität, als dass ja auch hier der unbewusste Wunsch gegenüber der Rationalität die Vorrangstellung einnimmt. Die Frau wiederholt nicht nur einfach die Geschehnisse der Nacht, sondern korrigiert sie wunschgemäß, arbeitet sie um. Damit wehrt sie die mit der Impotenz des Mannes verbundene Kränkung ab und erschafft sich unbewusst ihren Mann in Gestalt ihres Wunsches, nämlich einen potenten.

Das Zwangssymptom leistet zweierlei: es wiederholt gewisse Aspekte der Geschehnisse der Hochzeitsnacht und es korrigiert diese zugleich - »Die Zwangshandlung sagt also: Nein, es ist nicht wahr, er [der impotente Ehemann, S. W.] hatte sich nicht vor dem Stubenmädchen zu schämen, er war nicht impotent; sie stellt diesen Wunsch [...] in einer gegenwärtigen Handlung als erfüllt dar [...]«22  - der Fleck auf dem Tischtuch ist das Indiz und das Stubenmädchen die Zeugin dafür, dass der unbewusste Wunsch gegenwärtig verwirklicht, was in der Vergangenheit zu wünschen übrig ließ. Indiz und Zeugen für wen? Erstmal für den Analytiker - für diesen ist bei Freud nicht der Richter, sondern der Archäologe Vorbild: »Seine Arbeit der Konstruktion oder, wenn man es lieber hört, der Rekonstruktion, zeigt eine weitgehende Übereinstimmung mit der des Archäologen, der eine zerstörte und verschüttete Wohnstätte oder ein Bauwerk der Vergangenheit ausgräbt.«23 Psychoanalyse wie Archäologie rekonstruieren Relikte, während aber die alte Bausubstanz zur Enttäuschung des Archäologen sich als unwiederbringlich zerstört erweisen kann, wird im Seelenleben zwar verdrängt, dem Bewussten unzugänglich gemacht, aber niemals zerstört - hier kann »nichts, was einmal gebildet wurde, untergehen«24

Was ist nun die Voraussetzung, Unbewusstes zum Vorschein kommen zu lassen? Im Grunde - so die überraschende Wendung - muss sich z.B. in der Analyse der um Aufklärung bemühte Analysand ebenso verhalten wie der Gläubige: er muss sich auf der Couch von der äußeren Realität ab- und seiner inneren, psychischen Realität zuwenden. Das Verdrängte macht sich den Abzug der Besetzung der Außenwelt zunutze, um »seinen Inhalt dem Bewusstsein aufzudrängen«25 - aber niemals in unverschlüsselter Form. Das heißt, Vergangenes wird nicht einfach wieder ins Bewusste geholt, nicht einfach reproduziert, sondern nur in umgearbeiteter Form schleicht sich Unbewusstes in das Sprechen des Analysanden oder erscheint dem Gläubigen in Gestalt des schützenden Gottes.26 Diese Verbindung zwischen Aktuellem (Darstellung im Bewussten) und Vergangenem (aus dem heraus die unbewussten Wünsche fortwirken) ist das Material des Analytikers. Die therapeutische Arbeit, so Freud, »bestünde darin, das Stück historischer Wahrheit von seinen Entstellungen und Anlehnungen an die reale Gegenwart zu befreien und es zurechtzurücken an die Stelle der Vergangenheit, der es zugehört.«27

Das Unbewusste der Hausherrin reinszenierte Relikte des Vergangenen. Der scheinbare Unsinn ihrer täglichen Aktion entbarg seinen Sinn durch die Reflexion auf die Bedeutung der im Hier und Jetzt sich wiederholenden Erfahrung von vor zehn Jahren. Indem sie den Zusammenhang zwischen dem Tischtuch und ihrer Hochzeitsnacht herstellt, vollzieht sich etwas Merkwürdiges: Ihre Reflexion darauf, dass im Tischtuch Gegenwart und Vergangenheit zusammengeschossen waren, zerpflückt diesen Zusammenhang in dem Moment des Erkennens - in dem Moment, wo sie die Bedeutung erkennt, den Zusammenhang im Bewusstsein herstellt, ist die (unbewusste) Zusammenkunft von Vergangenheit und Gegenwart Vergangenheit; in dem Moment, wo die Frau erkennt, dass sie das Bett- mit dem Tischtuch und vice versa ‚verwechselt' hat, liegt keine Verwechslung mehr vor.

Immer hinkt die Bedeutung dem erkennenden Bewusstsein hinterher - notwendig: denn die Bedeutung des sich im Bewussten gezeigt habenden Unbewussten kann sich erst zeigen, wenn dies Liaison zwischen Bewusstem und Unbewusstem im Symptom aufgekündigt ist.

Und macht sich nicht ganz allgemein, gemessen an der Euphorie des Begreifens, nach dieser das Begriffene etwas schal und fade aus? Im »Ach, so war das gemeint!« klingt ernüchternde Erleichterung: das Begreifen stellt unter Beweis, dass nicht die eigene Blödheit der Erkenntnis bisher im Wege gestanden hatte, sondern lediglich die Unterstellung, die Sache wäre ungemein vertrackter, als sie eigentlich ist. Die Aufklärung dieses »Missverständnisses« bringt Klarheit in die Sache und diese damit um ihr Geheimnis - in dem Moment, wo die Bedeutung ‚erfasst' wird, wird sie nicht mehr das sein, was sie gewesen ist. Es bleibt ein Rest uneinholbar... und im Symptom war dies der unbewusste Wunsch, der sich in das Tischtuch mogelte und die Zwangshandlung der Hausherrin zunächst rätselhaft machte - mit dem Erkennen der Bedeutung des Symptoms, bleibt das Tischtuch als bloß Fleckiges zurück: die Vergangenheit ist »an ihre Stelle gerückt« worden (s.o.). Im Blödsinn steckte Sinn, der jetzt selbst ein wenig blöde dasteht - oder mit Lacan: »Aus dem Missgriff taucht die Wahrheit auf«.

In dem das Unbewusste der Bekannten Freuds das Tisch- wie das Betttuch behandelte, kam die Wahrheit der Geschichte raus, die niemals entweder nur dem Tischtuch, der Gegenwart oder dem Laken, der Vergangenheit, angehört. Der unbewusste Wunsch drängt natürlich nicht aus Jux und Dollerei zur Darstellung im Bewussten. Darstellung bedeutet ja eben, dass sich etwas in etwas anderem darstellt, sonst wäre es die Sache selbst - tautologisch aber wahr: um sich zu äußern, müssen die Inhalte des Unbewussten auf einer ‚anderen Bühne' zur Darstellung kommen, da Unbewusstes unbewusst ist, wird es niemand irgendwoanders finden können außer in seinen Darstellungen im Bewussten. »Im strengsten Sinne [...] muß daher wirkliche Erinnerung [...] wie ein guter archäologischer Bericht nicht nur die Schichten angeben [...], aus denen seine Fundobjekte stammen, sondern jene andern vor allem, welche vorher zu durchstoßen waren.«28

Zur Grabung braucht es mitunter den Analytikerarchäologen, nicht aber für die Erstellung der Schichten selbst - das Unbewusste drängt von selbst und überlistet die innere Zensurinstanz, schleicht sich als Störenfried ein. Die Psychoanalyse weckt nicht einfach die Geister, die sie rief - wie Foucault z.B. unterstellt - sondern zeigt, dass das einzige, was im Subjekt ab und an schläft, das Bewusste ist, das Unbewusste hingegen hat keine Pause.29 Der unbewusste Wunsch schläft niemals - die Frage ist nur, auf welche Weise er das Bewusste übertölpelt und sich in die ratio schleicht. Die Differenz zwischen Freud und der Zwangsneurotikerin, zwischen Normalität und Pathologie, zwischen Sprechen und Versprechen, Wachsein und Träumen etc. besteht nicht darin, dass sich das Unbewusste geltend macht, sondern wie.

Wenn sich alles Verdrängte im Seelenleben erhält und danach strebt sich in Träumen, Witzen, Fehlleistungen, Neurosen, Versprechern etc. darzustellen, so nicht zuletzt auch im Denken selbst: dieses »ist doch nichts anderes als der Ersatz des [...] Wunsches«30 - mehr noch: letzterer ist die Bedingung des Denkens, denn »nichts anderes als der Wunsch [kann] unseren seelischen Apparat zur Arbeit antreiben«31 Wenn also jegliches Denken als Mittel der Realitätsbewältigung, des Begreifens der äußeren Wirklichkeit, nicht nur auf Wunscherfüllung zielt, sondern der Wunsch das Denken erst zu seinen Objekten treibt, dann steht die von Freud in der Religionskritik aufgemachte Differenz zwischen aufgeklärtem und religiösem Denken in Frage.

In der Tradition Bacons verstehen Freud wie Feuerbach die Religion als kindisches Relikt, das sich mit dem erlangten Reifegrad bürgerlicher Gesellschaft und dazugehörigem wissenschaftlichem Begriffsapparat, als Mittel des rationalen Zugriffs auf die Dinge, erledigt hat. Die Freudsche Religionskritik bestimmt Wahrheit als die Übereinstimmung von Denken und der äußeren Wirklichkeit, der Realität - die Religion hingegen habe ihren Ursprung in der Projektion eines unbewussten Wunsches in die Außenwelt. Hier war nicht die Rede davon, dass das Denken vom Wunsch ausgehe, sondern im Gegenteil, dass das Denken - im Gegensatz zum Glauben - von diesem abzusehen habe. Die im ersten Abschnitt dargestellte säuberliche Trennung in der Religionskritik Freuds: Kindheit, Phantasie, Wunschwelt, Illusion, Religion hier und Erwachsenenalter, Wirklichkeit, Realitätsprinzip, Tatsacheneinsicht, Wissenschaft da, wurde in diesem Abschnitt von dem individuellen Symptom durchkreuzt. Mit Betrachtung des Wunsches am Beispiel des zwangsneurotischen Symptoms bestimmt sich das Denken als Ersatz des Wunsches als Umweg des Wunsches: von diesem aus-, über ihn hinausgehend und (wenn auch mit ungewissem Ausgang) auf seine Erfüllung hinzielend. Was folgt daraus nun für das kollektive Symptom, die Religion als Zwangsneurose?

III

Der im ersten Teil dargestellte, von Freud in der Gegenüberstellung von Wissenschaft und Religion erhobene, Wahrheitsbegriff verträgt sich also offensichtlich nicht mit dem im zweiten Teil, in der die Wahrheit im Auseinandertreten von Vergangenheit und Gegenwart, Bewusstem und Unbewusstem im Akt der hinterherhinkenden Bedeutungskonstitution lag. Im Gegensatz zur ‚religionskritischen Wahrheit' liegt die Wahrheit des Symptoms nicht jenseits des unbewussten Wünschens, sondern im Verhältnis von Bewusstem und Unbewusstem. Während der religionskritische Freud den Gedanken auf Abbildung der Wirklichkeit verpflichtet - je näher das Denken den Tatsachen rückt, desto wahrer -, hängt die Bedingung der Wahrheit im Zwangssymptom daran, dass die Frau unbewusst das Tischtuch nicht einfach als Tischtuch und das Bettlaken nicht einfach als Bettlaken aufgefasst hatte, sondern die Verwechslung die Voraussetzung war, zu erkennen, dass zwischen den Tüchern der unerfüllte, nicht eingelöste Wunsch nach einem potenten Mann steckte, der sich im Symptom als erfüllt und nicht-erfüllt zugleich zeigte. Das Seelenleben als widersprüchliche Konstellation von Gegenwärtigem und Vergangenem, von Unbewusstem und Bewusstem, von Wiederholung und Umarbeitung zu bestimmen widerspricht der strikten Entgegensetzung von rationaler Wissenschaft versus irrationaler Religion - das von Freud in der Religionskritik unterstelle Subjekt der Wissenschaft als Träger instrumenteller, affektbereinigter Vernunft stellt sich als Ding der Unmöglichkeit dar. Stattdessen taucht im zweiten Teil ein Subjekt auf, dessen Bewusstsein nicht nur auf religiösen Abwegen von der Aufklärung, nicht nur im Krankheitsfalle, in Ausnahmen von der Regel vom Unbewussten ‚überfallen' wird, sondern für dessen Bewusstsein ganz allgemein das Unbewusste konstitutiv ist - Rationalität ist niemals ganz Jenseits des irrationalen Wünschens. »Wenn wir gar nicht aus Bedürfnis mehr denken, wenn wir also denken, daß aus unseren Gedanken das wishful thinking, der Wunsch als Vater des Gedankens, ganz und gar unterdrückt ist, dann können wir eigentlich gar nichts mehr denken. Weil wir dann über das, was ist, gar nicht mehr hinausreichen, weil wir das bloß Seiende dann gar nicht mehr zu transzendieren vermögen, kommen wir in die unmögliche Situation, dort, wo wir zu denken meinen eigentlich bloß das zu wiederholen oder abzuspiegeln, was ohnehin ist.«32

Die religionskritische Forderung, das Denken dem wissenschaftlich-erwachsenen Zeitalter anzupassen, die Religion als infantiles Relikt zu überwinden und damit das vom Wunsch bereinigte Denken in Übereinstimmung mit der äußeren Wirklichkeit zu bringen, lässt sich damit selbst als illusorischen Denke charakterisieren: Ein idealistischer Traum des reinen, rationalen Geistes. Wenn also das Denken nicht nur nicht vom Wunsch vollständig bereinigt werden kann, da das Unbewusste immer in Arbeit ist und diese dem Bewusstsein unweigerlich präsentiert, sondern das Denken den Wunsch sogar als ‚Motor' braucht, ohne diesen gar nicht Schwung zum Gegenstand käme... dann ist die Freudsche Religionskritik erledigt und alles postmoderne Jacke wie Hose. Zumindest steht der Vernunft nicht zu Gebot, gegen den Kirchentag in Anschlag zu bringen, auf ihm würden konterrevolutionär ‚bloße Illusionen' als des ‚Volkes' Opium vertreten - denn die Vorstellung, dem Gebrauch der Vernunft als Einsicht in die zu verändernde Wirklichkeit funke nicht der Wunsch dazwischen, entpuppte sich selbst als Symptom eines illusionären Glaubens.

Mein Artikel scheint sich rasant auf einen Relativismus zu zu bewegen, der zu Religionskritik so gar nichts mehr zu sagen hat. Halt! - sagt Adorno: »Der Vater hält unbequemen und dezidierten Ansichten seines Sohnes entgegen, alles sei relativ, Geld sei, wie im griechischen Sprichwort, der Mann. Relativismus ist Vulgärmaterialismus, der Gedanke stört den Erwerb.«33

Man nehme sich lieber den Gedanken selbst noch einmal vor... Bisher bin ich in meiner Argumentation an dem Punkt, wo das vernünftige Denken nicht vom religiösen Glauben zu unterscheiden ist. Dies nun aber liegt in einem Moment der Sache selbst und nicht daran, dass Wahrheit relativ sei und Religionskritik daher eine Überheblichkeit der Vernunftanhänger: »Alles Denken ist Übertreibung, insofern als jeder Gedanke, der überhaupt einer ist, über seine Einlösung durch gegebene Tatsachen hinausschießt. In dieser Differenz zwischen Gedanken und Einlösung nistet aber das Potential der Wahrheit als auch das des Wahns.«34 Denken und Gedachtes sind nicht dasselbe und können es auch nicht werden, so sehr der Begriff auch der Sache zu Leibe rücken möchte.I Für die Anhänger der vulgärmarxistisch verstandenen Opiummetapher und Freuds Religionskritik bedeutet diese Differenz ausschließlich Wahn. Wenn aber die Nicht-Identität von Begriff und Gegenstand in der Bestimmung beider liegt, kann sich das Denken noch so sehr anstrengen: würde es ganz zur Sache wäre es nicht mehr Denken.35 Liegt in der Differenz das Potential der Wahrheit wie das des Wahns, so folgt daraus nicht, dass - wie der Relativismus es will - beide ununterscheidbar seien, nur als Potential sind sie es - ob aus dieser Wahn oder Wahrheit wird, entscheidet die hinzutretende oder ausbleibende Reflexion (und hier sind wir ganz nahe am Symptom).

Negiert Religionskritik das illusionäre Moment der Religion mit der Begründung, dieses verhindere die Einsicht in die Wirklichkeit und damit in die Notwendigkeit ihrer Veränderung, ohne hierin zugleich auch die Möglichkeit des wahren Momentes der Religion zu begreifen, verschenkt kritisches Denken seine Begründung im Wunsch, es möge wirklich anders zugehen in der Welt. Denken überhaupt braucht den Wunsch als Triebkraft, um vom Wahn sich scheiden zu können, muss der sich selbst nicht innewerdende, zur bewusstlosen Wiederholung drängende Wunsch in der Reflexion zu etwas anderem, Wahrheit werden.II

Ebenso steckt in dem unreflektierten Wunsch der Religion, dass die Wirklichkeit nicht endgültig ein solches Elend sei, der sich in der Nicht-Anerkennung des wirklichen Elends und dessen Idealisierung als Willen Gottes symptomhaft äußert, die Möglichkeit der Reflexion des Wunsches wie der Wirklichkeit. Die Wahrheit läge sehr bestimmt und nicht relativ in der in der Wirklichkeit gegebenen Möglichkeit der Verwirklichung des Wunsches.

Die Möglichkeit der Revolution ergibt sich aus dem ‚Missgriff', nicht aus der fortschrittlichen Durchsetzung instrumenteller Vernunft - und wird als störender Zwischenfall, Notbremse der Geschichte (bei BenjaminIII) ergriffen, Verwirklichung des theologischen Momentes des nicht-vulgären Materialismus.

Auf der Ebene des Subjekts, der Psychoanalyse nimmt sich der ergreifende Missgriff freilich etwas bescheidener aus. Am Symptom zeigte sich als Miniaturbild die Bedingung der Revolution, die Befreiung der Geschichte vom Wiederholungszwang im Symptom als versteinerter Darstellung der Nicht-Erfüllung des Wunsches. So gelesen erhält die psychoanalytische Religionskritik das notwendige theologische Moment, derem Begründer der Opiatgenuss nicht allzu viel geschadet zu haben scheint, dessen Religionsfeindlichkeit jedoch mit Vorsicht zu genießen ist: Anstatt dem Gläubigen eine Vernunft abzuverlangen, die die Wirklichkeit noch nicht hat, wäre wünschende Vernunft zu verwirklichen.

 

 

Literatur

Th. W. Adorno 1963 Meinung, Wahn, Gesellschaft. In: Eingriffe. Neun kritische Modelle Frankfurt/M., S. 147-172.

Th. W. Adorno 1975 Negative Dialektik Frankfurt/M.


Th. W. Adorno 1997 Philosophische Terminologie I. Frankfurt/M.

W. Benjamin Gesammelte Schriften, Bd. IV.1, Kleine Prosa, Frankfurt/M. 1991.

L. Feuerbach 1972 Religion als Selbstentfremdung des Menschen. In: K. Lenk (Hrsg.), Ideologie, S. 76- 87.

S. Freud Gesammelte Werke, Bd. II/III, Die Traumdeutung. Frankfurt/M. 1999.

S. Freud Gesammelte Werke, Bd. IV, Zur Psychopathologie des Alltagslebens, Frankfurt/M. 1999.

S. Freud Gesammelte Werke, Bd. VII, Zwangshandlungen und Religionsübungen, Frankfurt/M. 1999, S. 129-142.

S. Freud Gesammelte Werke, Bd. XI, Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, Frankfurt/M. 1999.

S. Freud Gesammelte Werke, Bd. XIV, Die Zukunft einer Illusion, Frankfurt/M. 1999 S. 323-380.

S. Freud Gesammelte Werke, Bd. XV, Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, Frankfurt/M. 1999.
S. Freud Gesammelte Werke, Bd. XVI, Konstruktionen in der Analyse, Frankfurt/M., S. 41-56.

M. Horkheimer/Th. W. Adorno 2002 Dialektik der Aufklärung. Frankfurt/M.

Lenk, Kurt 1972 Problemgeschichtliche Einleitung, in: Ideologie, ebd. (Hrsg.), S.15- 62. Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, in: H. Jochum / K. Heintz: Religionskritik, Konzepte 8, Frankfurt/M., S. 24f.

P. Schneider 2003 Freud, der Wunsch, der Mord, die Wissenschaft und die Psychoanalyse. Gießen.

http://www.kirchentag.de/
http://www.junge-linke.de/religion/kaum_zu_glauben_kritik_der_rel.html


ENDNOTEN

I Im Grunde verfolgt der gesamte universitäre Betrieb das Ziel, diese Differenz nach der einen oder anderen Seite hin aufzulösen und damit das Denken selbst abzuschaffen: so beschäftigt derzeit die von ihrer eigenen Unfähigkeit, sich statt von solipsistischer Kopfonanie von einem Gegenstand betören zu lassen, zu Recht Gelangweilten die Frage, ob die postmoderne Denunziation der Wahrheit als Konstruktion und Diskurseffekt die Fahne gegen den imperialistischen Vormarsch der Neurokognitionsforschung hochhalten kann, die die wirkliche und daher wahre Existenz der Vernunft mit dem Bild der dazugehörigen Hirnregion einwandfrei unter Beweis stellt. Der Kritik, die an der Wahrheit hängt um diese zu verwirklichen, ist in diesem Fall, der Entscheidung entweder alles Ding oder alles Denke, ausnahmsweise der Ausgang Jacke wie Hose.

II Spätestens mit Auschwitz zeigte sich, wie sehr Freud damit Recht hatte, auf der Ambivalenz unbewusster Wünsche zu bestehen, mit libidinös ganz und gar nicht Ähnlichklingendes, wie lieb etwa, zu meinen und die zerstörerische Macht, mit der der Eros liiert ist, beim Namen Todestrieb zu nennen – das Vorhaben der 68er, mit Reich die Sexualität zu befreien, macht wieder einmal darauf aufmerksam, dass eine Auseinandersetzung mit den Ursachen und Konsequenzen der Vernichtung der Jüdinnen und Juden durch die Naziväter und –mütter, das Anliegen so vieler der ProtestlerInnen nicht gewesen sein kann. Ansonsten wäre zumindest eine Skepsis gegenüber unmittelbar in die Tat umgesetzter Wünsche verbreiteter gewesen. Der ungezügelte Wunsch drängt danach, sich die Wirklichkeit nach seinem Bilde zu schaffen: Das wahnhafte des Antisemiten vom Juden als dem größtmöglichen Gegenteil menschlicher Subjekte, nämlich als ‚Parasiten’, wurde von den Nazis insofern verwirklicht, als dass in den KZs mit deutscher Gründlichkeit den Opfern das Menschsein ausgetrieben, die Einzelnen zum bloßen Exemplar der Gegenrasse gemacht werden sollten. Freuds letzte, hier zitierte Vorlesung erschien 1933 – hier bezeichnet er die Religion als »Gefahr für die Menschheit« (S. Freud, GW XV, S. 185). Nichtsdestotrotz äußerte er wenige Zeit später die Hoffnung, der reaktionäre Katholizismus könne einen Schutz gegen die Durchsetzung der Nazis in Österreich darstellen. 1938 musste Freud nach London emigrieren. Hieran zeigt sich nicht, dass der Antisemitismus gegen den Katholizismus gesiegt, sondern vielmehr, dass beide Ideologien sich als absolut kompatibel gezeigt haben und zeigen, siehe aktuell: vermutlich fiel dem Papst erst nachdem er die antisemitischen Piusbrüder verzeihend in die Arme der Mutter Kirche schloss, ein, dass der, trotz anfänglichem Zaudern und Zieren, dann doch erfolgte Wiederausschluss von Holocaustleugnern eigentlich der beste Weg sei, die historisch belegte Affinität der katholischen Kirche zu den Nazis mit Empörung zu verleugnen und so die eigene Integrität unter Beweis zu stellen. Wer’s glaubt… Noch der festeste Glaube an den reinen Geist lässt sich mit dem an die reine Rasse verbinden, für ein Gebet ist zwischendurch immer Zeit. Illusionen im Freudschen, also sehr weiten, Sinne haben eben nicht die Eigenschaft, da sie von der Realität absehen, per se nicht in die Tat umsetzbar zu sein – im Guten wie im Schlechten.

III So heißt es bei ihm: »Die Zukunftsdrohung ins erfüllte Jetzt zu verwandeln, dies einzig wünschenswerte telepathische Wunder ist Werk leibhaftiger Geistesgegenwart. […] Noch die Antike kannte die wahre Praxis, und Scipio, der Karthagos Boden strauchelnd betritt, ruft, weit im Sturze die Arme breitend, die Siegeslosung: Teneo te, Terra Africana! Was Schreckensbild hat werden wollen, bindet er leibhaftig an die Sekunde […].« (W. Benjamin GS IV.1, S. 142) Scipio also betritt also nicht gemessenen, sich selbst beisammenhaltenden Schrittes Karthargo, sondern stolpernd, und gibt diesem Stolpern die Bedeutung des Ergreifens: Ich halte Dich, Afrikanische Erde! Für die instrumentelle Vernunft wäre hingegen das Stolpern ein bloßes Stolpern… danach klopft man sich die Hose ab und geht, vielleicht noch ein wenig peinlich berührt, seiner Wege.


ANMERKUNGEN:

1) http://www.kirchentag.de/

2) Ausnahme das Flugblatt der Gruppe »Kritik im Handgemenge« – http://www.junge-linke.de/religion/kaum_zu_glauben_kritik_der_rel.html

3) http://www.kirchentag.de/

4) ebd.

5) http://www.junge-linke.de/religion/kaum_zu_glauben_kritik_der_rel.html

6) K. Marx 1981, 24f.

7) M. Horkheimer/ Th. W. Adorno 2002, S. 64

8) K. Lenk 1972, S.17

9) M. Horkheimer/Th. W. Adorno 2002, S. 9

10) L. Feuerbach 1972, S.77

11) S. Freud GW IV

12) S. Freud GW XV, S. 181

13) S. Freud GW XIV, S. 373

14) S. Freud GW XV, S. 184

15) S. Freud GW XIV, S. 374

16) »Denn dieselbe Person, der das Kind seine Existenz verdankt, der Vater […] hat auch das schwache, hilflose, allen der Außenwelt lauernden Gefahren ausgesetzte Kind beschützt und bewacht; in seiner Obhut hat es sich sicher gefühlt. […] Durch ein System von Liebesprämien und Strafen wird das Kind zur Kenntnis seiner sozialen Pflichten erzogen, wird es belehrt, daß seine Lebenssicherheit davon abhängt, daß die Eltern und dann auch die Anderen es lieben und an seine Liebe zu ihnen glauben können. Alle diese Verhältnisse trägt dann der Mensch unverändert in die Religion ein. […] in der Liebe zu Gott und im Bewusstsein, von ihm geliebt zu werden, ist die Sicherheit begründet, mit der man sich gegen die Gefahren der Außenwelt wie der menschlichen Mitwelt wappnet. Endlich hat man sich im Gebet einen direkten Einfluß auf den göttlichen Willen und damit Anteil an der göttlichen Allmacht gesichert.« (S. Freud GW XV, S. 176 f.)

17) S. Freud GW XV, S. 197

18) S. Freud GW VII, S.138 f.

19) S. Freud GW XI, S. 269

20) ebd., S. 269

21) ebd., S. 278

22) ebd., S. 270

23) S. Freud GW XVI, S.45

24) ebd., S. 428

25) S. Freud GW XVI, S. 54

26) »Die Wandlungen des Wunsches sind notgedrungen Wiederholungen, die Wiederholungen aber auch Wandlungen. Es gehört zum Wunsch, daß er auf Umwegen wiederholen muß und sich so verwandelt.« (P. Schneider 2003, S. 71)

27) S. Freud GW XVI, S. 55

28) W. Benjamin GS IV.1, S. 401

29) Die »unbewußten Wünsche betrachte ich […] als immer rege, jederzeit bereit, sich Ausdruck zu verschaffen, wenn sich ihnen Gelegenheit bietet, sich mit einer Regung aus dem Bewußten zu alliieren, ihre große Intensität auf deren geringere zu übertragen. Sie teilen diesen Charakter der Unzerstörbarkeit mit allen anderen wirklich unbewußten […] Akten.« (S. Freud GW II/III, S. 558)

30) S. Freud GW II/III, S. 572

31) ebd.

32) Th. W. Adorno 1997, S. 129

33) Th. W. Adorno 1975, S. 46

34) Th. W. Adorno 1963, S. 152

35) Ein Denken, welches das trotzdem will, wird demgemäß versachlichtes genannt.


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