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Mai, 2019:
Ausgabe #10 ist erschienen

Lars Quadfasel

Gottes Spektakel

Zur Metakritik von Religion und Religionskritik

2. Teil: Liquidation Gottes, Rettung der Theologie


»... daß ich von der metaphysischen Hoffnung nicht ablassen mag, ist gar nicht,
weil ich so sehr am Leben hänge, sondern weil ich mit Gretel erwachen möchte.«

(Theodor W. Adorno, Traumprotokolle, Frankfurt am Main 2005, S. 72f.)


Ein Papst wird ausgebürgert


Das Elend der Religion spiegelt sich im Elend der gängigen Religionskritik. Gerade in dem Land, in dem, nach Freuds Vermutung, schon die Christianisierung nie ganz gelang, ist diese kaum je substantieller als ihr Gegenstand. Ihren höchsten Ausdruck findet sie im allgemeinen Gequängel darüber, warum katholische Würdenträger nur immer so verbohrte Dogmatiker sein müssen, die den Paaren nicht die Pille, den Schwulen nicht den Segen und den Frauen nicht das Priesteramt gönnen - ein Gequängel, das, wenn einmal wieder ein Papstdarsteller den Boden einer deutschen Großstadt betritt, von linksradikalen Gruppen in die sattsam bekannten ‚bunten und fantasievollen Aktionen' umgesetzt zu werden pflegt. Die irre Vorstellung, die sancta ecclesia könne doch einfach statt für Zölibat und Männerbündelei für Schwulenehe, Geburtenkontrolle und Safer Sex eintreten, verrät weniger über die Kirche als über die Bedürfnisse ihrer hiesigen Kritiker. Aus deren Traum von einer besseren Welt, in der Uta Ranke-Heinemann einem die Beichte abnimmt, während Homosexuelle freudig zum Altar schreiten und Priester den Kondomgebrauch segnen, spricht die Sehnsucht, noch für den intimsten Akt, die Lust ohne Fortpflanzung und den Schwur ewiger Liebe, Deckung von ganz oben zu erhalten. Hierzulande verübelt man der Kirche nicht, dass sie eine autoritäre Institution ist, sondern dass ihre Autorität unter ihrer Altbackenheit leidet.

Offenkundig wurde dies zuletzt in den zahlreichen Unmutsbekundungen über die päpstlichen PR-Debakel. Man hatte sich - »wir sind Papst!« - eine zweite Lichtgestalt nach Franz Beckenbauer erträumt, einen neuen, diesmal spirituellen Führer, um den uns die Welt beneiden würde; man bekam stattdessen einen schmallippigen Greis mit schlechter Presse. Statt warmer Worte und Visionen, die nichts kosten, lieferte der Landsmann auf dem Heiligen Stuhl bloß langweilige Exegesen und Disputationen. So begannen die Menschen im Lande das Schlimmste zu befürchten: dass dem jovialen Jesusimitator und Gute-Laune-Grußaugust Wojtila kein deutscher Dalai Obama nachgefolgt sein könnte - sondern, horribile dictu, ein ganz und gar undeutscher Intellektueller. Unübertroffen brachte das der Spiegel, das Frontgeschütz der konformistischen Kritik, in seiner diesbezüglichen Titelgeschichte auf den Punkt: Ein »Mann der Bücher« sei der Papst, eingesperrt in den »Elfenbeinturm der Theologie«; ein echter Stubenhocker, der »den Kontakt mit der Welt stets reduziert. Die Kirche von innen, die alten Traditionen, das ist seine Welt, und nur, was in Büchern steht, ist darin noch wichtig.«1

Ob nun seine Rehabilitierung eines Auschwitzleugners oder sein infames und völkermordsverherrlichendes Geschwätz von der Christianisierung, welche die Indios »unbewußt herbeigesehnt« hätten - als besorgniserregend gilt Spiegel und Konsorten nicht der durchaus weltliche Aufklärungsverrat, den Ratzinger betreibt, sondern vielmehr, dass er damit den Draht zum kleinen Mann verlieren könnte. Und eben deshalb darf die Rehabilitation einer erzreaktionären Bruderschaft, deren Gründer »Juden, Kommunisten und Freimaurern« den Kampf angesagt hatte2, nicht als das bezeichnet werden, was sie ist: als strategisch kalkulierter Anschlag auf Vernunft und Wahrheit; sie hat im Gegenteil als Ausfluss der weltabgewandten Grübeleien eines »trockenen Gelehrten«3 mit übertriebenem Hang zur Wahrheitsliebe zu gelten. Oder, wie Wolfgang Thierse, die sozialdemokratische Moralkeule für besondere Fälle, es so schön formulierte: »Er [Ratzinger] beharrt auf dem Wahrheitsanspruch, das ist nicht verkehrt. Aber er muss ihn verbinden mit dem Respekt vor anderen Wahrheiten.«4

Wenn ein Großunternehmer Imageschaden erleidet, ist das schlecht für die ganze Branche; das gilt selbstredend auch fürs Moralgeschäft. Insofern nimmt es nicht Wunder, dass die protestantische Kanzlerin eines säkularen Staatswesens sich berufen fühlte, einige mahnende Worte an den Heiligen Stuhl zu richten. Aus der allgemeinen Papstschelte aber sprach mehr als bloß konfessionsübergreifendes Herrschaftskalkül: die kollektive Entrüstung nämlich, wie schwer es einem die letzte Bastion der Gegenaufklärung doch mit ihren »theologischen Lehrsätzen, dogmatischen Erkenntnissen und kirchenrechtlichen Zwängen« (Spiegel) macht, sich im Glauben einfach mal gehen zu lassen.

Positivismus vs. Gott, 2:0

Wenn man in Deutschland5 nie recht weiß, ob sich die Wut von Glaubensgegnern eher gegen die religiösen Dogmen richtet oder gegen die Tatsache, dass diese noch zu wenig willkürlich sind, so sind die Verhältnisse andernorts klarer. Die Streitschriften des Evolutionsbiologen Richard Dawkins und des liberalen Journalisten Christopher Hitchens, The God Delusion6 und God Is Not Great7, haben in den letzten Jahren für einiges Aufsehen gesorgt. Sie treten unter der grundsympathischen Maxime an, mit allem reinen Tisch zu machen, was nicht vor Vernunft und Wissenschaft Stand zu halten vermag: nicht bloß mit rufschädigenden Fanatikern und irregeleiteten Extremisten also, sondern mit sämtlichen Institutionen und Systemen des Aberglaubentums. In der Tradition des großen Lord Bertrand Russell (»Zu wenig Beweise, Gott«) zerlegen beide Autoren lustvoll die logischen Inkonsistenzen und Scheinplausibilitäten der kursierenden Gotteslehren, sezieren deren paranoische Grundlagen sowie infantil-narzisstische Konsequenzen und fördern dabei all die Grausamkeit zutage, die es etwa braucht, um ein Kind mit Denkverboten, Sexualangst und Höllendrohungen zu traktieren. Und sie lassen dabei weder eines der trendigen Hintertürchen - Buddhismus, Skeptizismus, Instantesoterik - offen, noch die allseits beliebtesten Konsensheiligen wie Mutter Theresa ungeschoren.8 Kurz: Sie setzen der Gottheit Ockhams Messer an die Kehle, auf dass es endlich ein Ende habe mit der Verdummung und der Verrohung, die die Religionen befördern und durch die sie sich erhalten.

Der Verdienst von Hitchens und Dawkins, in Zeiten der prozessierenden Gegenaufklärung atheistische Bestseller zu landen, ist kaum zu überschätzen. Und doch kommt er nicht ohne Preis. Was die Fakten, die sie gegen die Religion sprechen lassen, unterschlagen, ist, was in jenen nicht aufgeht. Hitchens und Dawkins wollen zwar alles wissen, was ein Gott der Gesellschaft antut, aber nichts von einer Gesellschaft, die sich Götter schaffen muss. So honorig die Tradition, in der sie stehen, so ist es eben nicht die Marxens und Freuds, sondern die des logischen Positivismus. Weil Gesellschaft sich nicht empirisch verifizieren, sondern nur spekulativ erschließen lässt, hat Denken davor Halt zu machen: Was das Reich der Empirie transzendiert, darin wittern die Autoren (deren einer, der ehemalige Trotzkist Hitchens, mit Renegateneifer auch den Marxismus unter die Religionen subsumiert) das Antlitz der Theologie. Ängstlich vermeiden sie daher alles, was über die Immanenz der Verhältnisse hinausweist. Hitchens' und Dawkins' Atheismus, heißt das, ist noch zu wenig atheistisch: Er wagt sich nur an die offenkundigen Lügen der Religion, nicht aber an die Wahrheit, die sie verbirgt.

Der neueste Angriff auf die Geschichte

Denn mit Fakten allein hat man nichts in der Hand; schon gar, warum so viele sie nicht einsehen wollen. Just wie das Ineinander von Markt und Herrschaft dem gesunden Menschenverstand als mittleres Wunder erscheinen muss, so auch das von Mondlandung und Himmelsmacht. Schon im 18. Jahrhundert haben sich die Aufklärer die Anomalie, die sie inmitten der besten aller Welten vorfanden, nur als Ergebnis arglistiger Täuschung erklären können. Hitchens und Dawkins nun bereichern die klassische Priestertrugsthese um eine quasi biologische Variante: Weil die Phänomene der Natur - Sonnenfinsternisse, Erdbeben oder Fortpflanzung - aus vorwissenschaftlicher Perspektive unerklärlich erscheinen und wir Menschen außerdem (das ist ihr Clou) »mit überdimensionalen Adrenalindrüsen und einem zu klein geratenen präfrontalen Kortex« (HH 115) ausgestattet sind, sei unseren Vorfahren quasi gar nichts anderes übrig geblieben, als an die Stelle naturgesetzlicher Ursachen einen anthropomorphen Urheber zu projizieren - eine Notwendigkeit, derer wir heute, Newton, Darwin und den Entschlüsselern der DNA-Doppelhelix sei Dank, zum Glück enthoben sind.

Was wie eine pfiffige Lösung klingt, ist alles andere als das. Die Frohe Botschaft vom wissenschaftlichen Fortschritt, an dessen Spitze man sich wähnt, schlägt reflexionslos um in die Jeremiade auf die Zurückgegliebenen. Die aber trifft, dem diskreten Anthropologismus sei Dank, im Zweifel jeden. Von »Natur aus egozentrisch« und voller »Konstruktionsfehler« (HH 96f.), tragen »wir Menschen« einfach »die Nase zu hoch« (GW 329) - und ganz besonders dann, wenn »wir« die Welt mit Bedeutungen belehnen und uns mit Gottes Hilfe als deren Mittelpunkt imaginieren.

Worauf Religionskritiker vom Schlage der Hitchens und Dawkins sich berufen, »der Mensch«, ist zugleich ihr ärgster Widersacher. Weil ihnen ein Begriff davon fehlt, dass die Menschheit nicht einfach unter den Fakten rangiert, sondern sich - Musterfall von Dialektik - als Gattung im geschichtlichen Prozess erst konstituiert, zerfällt alles, was sie über diese zu sagen haben; und damit auch die Vorstellung von deren Gelingen. Um etwa zu beweisen, dass es zu einem tugendhaften Leben keiner göttlichen Gebote bedürfe, führen sowohl Dawkins als auch Hitchens ein durch evolutionäre Selektionsprozesse erworbenes Moralempfinden ins Feld.9 Ein solches aber einmal unterstellt, erscheint es ja nur umso unfassbarer, warum die Menschen dennoch stets eher auf die Stimme Gottes als die ihrer Natur zu horchen gewillt waren. So ist das Bild von der Religion als »Erbsünde« (HH 249), als selbstverantworteter Sturz aus dem paradiesischen Naturzustand, nur konsequent; es ergänzt, logisch widersinnig und dennoch stimmig, das vom Menschen als niederträchtigem Dauerneandertaler. Menschliche Geschichte erscheint entweder als ehernes, durch präfrontale Kortexe determiniertes Schicksal oder als bloße, ebenso überflüssige wie ärgerliche Aberration; nie aber als Geschichte im emphatischen Sinne: als Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit, dessen Potential es erst noch zu realisieren gälte.

Eindringlich ist dies an Karlheinz Deschner, dem führenden deutschen Kirchenkritiker, zu erfahren. In der ungeheuren Menge an Beweisen, die er seiner zehnbändigen Kriminalgeschichte des Christentums gegen die sancta ecclesia zusammenträgt, gehen nicht bloß alle Zäsuren unter10; der ununterbrochene Strom der Lügen, Fälschungen, Gräueltaten und Massenmorde, der vor den Augen der Leserin dahinzieht, verschwimmt schließlich zu einem einzigen undifferenzierten Blutstrom, der als Reaktion wenig mehr als die misanthropische Frage erlaubt, ob eine Menschheit, die sich solches antut, es vielleicht auch nicht besser verdient hat. (Deschner selber tendiert dabei zu einem Ja. Für das »schwärzeste aller Verbrechen« hält der gefeierte Humanist, der sich nicht zuletzt gegen die »Amerikanisierung der Welt« engagiert, inzwischen den Fleischverzehr: »Ich bedaure und betrauere wenig mehr, als daß alle, die Tiere [...] töten, von ihnen nicht getötet werden können.«11 Das, immerhin, erledigt in immer größeren Teilen der Erde ja inzwischen der Weltmarkt für sie.)

Über die Vergleichbarkeit der Monotheismen

Die historische Erfahrungsfähigkeit einer Religionskritik erweist sich in ihrer Haltung zum Judentum. Für die Positivisten scheint das kein besonderes Problem zu stellen; ihnen gilt, auch hierin ganz und gar liberal, jede Gottesverehrung als gleich falsch. Das von Anhängern des Dawkinsschen »evolutionären Humanismus« verfasste Bilderbuch Wo bitte geht's zu Gott? fragte das kleine Ferkel12 etwa, das durch den Indizierungsantrag ministerialer Gotteskrieger in die Schlagzeilen geriet, widmet jeder der drei abrahamitischen Religionen jeweils genau drei Doppelseiten - stets peinlich darum bemüht, die abstoßenden Eigenschaften gerecht unter ihnen aufzuteilen. So nachvollziehbar aber der Wunsch sein mag, ganz ausgewogen alle Gottesfürchtigen gleichermaßen vor den Kopf zu stoßen (und die multikulturellen Klezmerfans und Islamversteher, die jedem Völkchen ihren Aberglauben gönnen, solange es nicht der christliche ist, gleich mit), so wenig wird die abstrakte Gerechtigkeit ihrem Gegenstand gerecht. Sie ebnet genau jene qualitativen Differenzen ein, aus denen Geschichte besteht. Und ohne einen Begriff von geschichtlicher Vermittlung rückt - der behaupteten Äquidistanz zum Trotz - ganz naturwüchsig das Judentum ins Zentrum der Kritik: als Ursprung des monotheistischen Übels.

Radikal sein heißt schließlich, nach dem beliebten Satz von Marx, an die Wurzel zu gehen; und die, so lehrt die Chronologie, heißt nun einmal nicht Jesus oder Mohammed, sondern Moses. Ganz in diesem Sinne bezeichnet Hitchens als den »absolut tragischen Tag der Menschheitsgeschichte« (HH 328) den Aufstand des Judas Makkabäus von 165 v.u.Z., mit welchem der »mosaische Fundamentalismus« befestigt und die Hellenisierungstendenzen der »frühen Multikulturalisten« unter den palästinensischen Juden unterbunden worden seien. Denn das habe »schließlich ins Christentum [...] und von dort aus unvermeidlich [!] in die Geburt des Islams« münden müssen. Mit der ersten Ursache ist der Prozess entschieden, und die Verantwortlichen sind dingfest gemacht.

Schon der Ahnherr der positivistischen Religionskritik, Paul Thiry d'Holbach, schrieb in seinem 1766 verfassten Aufsatz »Das entschleierte Christentum« ganz unbefangen: »Der rohe und zugleich lächerliche Aberglaube machte das jüdische Volk zum geborenen Feind des Menschengeschlechtes und zum Gegenstand seiner Entrüstung und Verachtung. [...] Als Sklave der Ägypter, der Babylonier und der Griechen erfuhr es unaufhörlich die härteste und wohlverdiente Behandlung.«13 Ebenso unbefangen aber vermag er im Folgenden festzustellen, das Christentum habe sich nicht nur »den schrecklichen Gott der Juden zu eigen« gemacht, sondern dessen Grausamkeit noch überboten: Denn die »vergänglichen Strafen des irdischen Lebens sind die einzigen, von denen der hebräische Gesetzgeber spricht; der Christ aber sieht seinen barbarischen Gott voller Wut und ohne Maß sich rächen in alle Ewigkeit.«14 So einfach haben es seine Nachfolger, für die keine metaphysischen Ideen von Himmel und Hölle, sondern allein die Tatsachen zählen, nicht; schon deswegen, weil es gerade deren Augenschein ist, der das Judentum so schlecht aussehen lässt.

Wer es nämlich vor allem auf ‚schlimme Stellen' abgesehen hat, wird im Alten Testament unzweifelhaft fündiger als im Neuen, wahrscheinlich sogar als im Koran. In der Tat entstammen Hitchens' und Dawkins' Belegstellen für die Blutrünstigkeit Heiliger Schriften fast ausschließlich der jüdischen. Natürlich mühen sich beide redlich, gar nicht erst in den Ruch der Judenfeindschaft zu geraten; aber die Behauptung Hitchens', das Neue Testament stelle das Alte »mit seiner Bösartigkeit in den Schatten« (HH 137), fällt dem Autor, bei allem guten Willen, sichtlich schwer zu begründen. (Dass die Fälschung historischer Tatsachen - denn darauf kapriziert sich Hitchens in erster Linie - schwerer wiegen soll als Aufforderung zu Vergewaltigung oder Völkermord, das glaubt man selbst einem Positivisten nicht unbesehen.)

Der Verzicht auf jede geschichtsphilosophische Spekulation fällt gerade an dieser Stelle den Autoren mit Aplomb auf die Füße. Wenn Hitchens und Dawkins an die Erzählungen aus der israelitischen Frühzeit den Maßstab eines aufgeklärten sittlichen Empfindens anlegen, so ist das kaum weniger anachronistisch als der Versuch fundamentalistischer Prediger, daraus einen Tugendkatalog fürs 21. Jahrhundert zu kondensieren. Sinnvoll zu lesen wären die alttestamentarischen Schauergeschichten vom zornigen Gott und seinen meuchelmordenden Dienern allein im trüben Licht der menschlichen Vorgeschichte: als Dokument der ungeheuren Kraft, welche die Vergeistigung der mythischen Erzählung zum geschriebenen Wort, des magischen Ritus zum Gebot des Gesetzes, der wilden animistischen Göttervielfalt zum bilderlosen Einen Gott einmal gekostet haben muss.

Der Gehalt der Heiligen Schrift muss denen entgehen, die sich den geschichtlichen Stand entgehen lassen, dem er abgerungen ist.15 Eindringlichstes Beispiel hierfür ist die Erzählung von Abraham und Isaak. Sowohl bei Hitchens als auch bei Dawkins firmiert sie als zentraler Beleg für religiöse Unmoral und Kindesmissbrauch. Und zweifellos existiert eine lange Tradition, aus Abrahams Bereitschaft, auf Gottes Geheiß seinen Sohn zu opfern, genau das herauszulesen: die ultimative Pflichterfüllung eines treuen Knechts des Herren, welcher die ihm auferlegte Prüfung mit Glanz und Gloria besteht.16 Wer sich aber, ob mit Hingabe oder mit Abscheu, auf diese Deutung festlegt, dem entgeht die entscheidende Schicht der Parabel, die der Absage ans Menschenopfer. Im Engel, der Abraham Einhalt gebietet, verdichtet sich das originär Neue des Judentums: die Verehrung eines Gottes, der, statt die üblichen rituellen Schlachtungen zu verlangen, sich mit einer symbolischen Abstraktion in Form der männlichen Vorhaut begnügt.

Es sind die Spuren dieser Transition, die bis heute das eigentliche Skandalon des Judentums ausmachen. Dass der mosaische Gott, anders als der christliche und auch der mohammedanische, noch deutlich die Züge seines trüben stammesreligiösen Ursprungs trägt, macht ihn unheimlich: Er sperrt sich gegen seine Restringierung aufs eingehegte theologische Reservat. Nicht einmal, worum es sich beim Judentum genau handelt, um eine Religion, eine Ethnie oder etwas ganz jenseits davon, lässt sich sinnvoll angeben.17 So einfach es ist, diese Züge in den Riten und Schriften dingfest zu machen, so wohlfeil ist deren Denunziation als unzeitgemäß. Dass der mosaische Glaube einem durch Beschneidung, koscheres Speiseregiment und geburtsrechtliche Exklusivität ausgesondertem Volk vorbehalten bleibt, mag allemal archaisch sein. Aber in der Archaik hält er zugleich einem unerhörten geschichtlichen Ereignis die Treue: dem Bündnis mit dem einen Gott, der in sich die Welt vereint, um darin nach wahr und falsch zu unterscheiden.

Der eine Gott, die eine Wahrheit

Eben dieser Anspruch ist unlängst wieder unter Beschuss gekommen. Kulturwissenschaftler unter Führung von Jan Assmann haben im Umbruch zum Monotheismus die entscheidende Ursache für die Explosion religiös motivierter Gewalt gesehen. Polytheistische Götter hätten geschichtlich stets koexistieren können; wo aber ein Gott sich zum einzig wahren erklärt und alle anderen als Götzen verwirft, werde dem Terror gegen Ungläubige - von der Ausrottung der biblischen Kanaaniter bis zum Anschlag aufs WTC - die höheren Weihen verliehen.18 Dass Wahrheit (russisch: Prawda!) totalitär sei und man es mit ihr besser so genau nicht nehme, das hört man in unseren postideologischen Zeiten gerne. Kapital und Kulturindustrie lieben es halt eher entspannt: Dass ein Leben zu Hartz-IV-Bedingungen menschenunwürdig sei, soll schließlich auch nur als eine Meinung unter vielen gelten, gleichberechtigt etwa mit der, den Arbeitslosen ginge es noch viel zu gut. Wo das durchgesetzt ist, glaubt man dann selbst die irre Idee, die 9/11-Attentäter hätten für, ausgerechnet, die Wahrheit gemordet, und nicht etwa um des Mordens willens.

»Ich fürchte«, heißt es demgegenüber bei Adorno, »darin bin ich unverbesserlich theologisch: Es gibt nur eine Wahrheit.«19 Denn ohne Anspruch darauf könnte kein Gedanke gedacht, kein Satz gesprochen, kein Urteil getroffen werden; auch und erst recht nicht über die Schlächter im Auftrag des Herrn. Aus deren Taten nämlich spricht kein Überschuss, sondern ein Mangel an Wahrheit, und zwar ganz wortwörtlich. Das Rätsel, über das Gläubige seit jeher sich (und vorzugsweise anderen) den Kopf zerbrochen haben, ist ja nicht das Wahre, sondern das Falsche. Anders als der Stammesgott, der die fremden Völkerschaften zur Plünderung freigeben kann, ohne sich um die allgemeinen Konsequenzen zu scheren, trägt der Eine Gott Verantwortung fürs Ganze. Jedes Übel fällt daher zwingend auf den Schöpfer zurück, der es in seiner Allmacht zugelassen hat; jede Lüge straft den Lügen, der von der Welt, die er schuf, behauptete, sie sei gut. Wer den Unglauben bekämpft, bekämpft ihn, ob er will oder nicht, immer auch im eigenen Herzen. Zum Gewaltstreich zwingt ihn nicht, dass er weiß, im Recht, sondern dass er fürchtet, im Unrecht zu sein: nicht die göttliche Wahrheit, sondern der menschliche Zweifel an ihr.

Kein Grund also, nach postmodernem Vorbild in Wahrheitsfragen aus Prinzip fünfe gerade sein zu lassen, um es dem unterdrückerischen Konglomerat von Logik, Identitätszwang und Heteronormativität mal so richtig zu zeigen. Ganz im Gegenteil: Widerstand gegen die banale Bösartigkeit derer, denen noch jede Autorität recht wäre, um ihre Gewalttaten zu decken, hieße, die Wahrheit ernster zu nehmen als Gott selber. Der einstige Statthalter des Unbedingten erweist sich als selber bedingt durch die Naturwüchsigkeit von Herrschaft. Steht deren irdische Gestalt erst einmal zur Disposition, erscheint auch deren himmlicher Garant als Usurpator: Solange die adaequatio rei et intellectus ihre Stütze jenseits des Denkens und der Dinge hat, in der allem Irdischem entzogenen Instanz des höchsten Wesens, solange können die Subjekte sich ihrer nie sicher sein. Schon die mittelalterlichen Skeptiker fanden kein Kriterium, sinnvoll zu entscheiden, ob Gott ihnen in seiner Güte erlaube, die Wahrheit zu sehen, oder nicht doch genausogut ein Trugbild; und der cartesianische Gottesbeweis, der aus dem Zweifel herausführen sollte, war, anders als das cogito ergo sum, ein ontologischer Taschenspielertrick. Die Theologie verfällt dem von ihr in die Welt gesetzten Anspruch: Die Wahrheit ist mit den Menschen, oder sie ist nichts.

Das Jenseits der Natur

Das veritable Idyll, zu dem so unterschiedliche Autoren wie Hitchens, Onfray oder Deschner20 den Polytheismus stilisieren, zielt allerdings auf Umfassenderes als das Lob des Relativismus´. Das Leben und Leben lassen, welches die heidnischen Götter zelebriert haben sollen, meint, in solcher Rezeption, wirklich das Leben schlechthin. Kardinalssünde des Monotheismus nämlich sei, so die populäre Meinung21, die Aufspaltung der Welt in eine dies- und eine jenseitige - eine sinnlich-übersinnliche Vivisektion, welche den Menschen aus seiner Verwurzelung im Dasein reiße und von seiner Natur entfremde. Vom Einbruch des lebensfeindlichen Gottes in die mythisch-unschuldige Fabelwelt unserer Vorfahren lebt Marion Zimmer Bradleys Bestseller Nebel von Avalon genauso wie Jürgen Lodemanns ambitioniert neudeutsche Saga von Siegfried und Krimhild; ganz wie von selbst drängt die Beschwörung von Intensität und Fülle des vorchristlichen Zustands zur Romanform.

Was darin an matriarchalem Kitsch mitschwingt, mag schwer verdaulich sein. Aber dem literarischen Befund in toto zu widersprechen, fällt dennoch nicht leicht. Im Namen der Ewigkeit das Vergängliche zu verachten, entzieht den Menschen die Domäne ihres Willens, ihres diesseitigen Glücks. Die Sakralisierung des Seins schlägt mit Notwendigkeit in dessen Entwertung um: Wenn nämlich die Welt vom einen Gott, der - anders als die vielen Götter - keine Fehler macht, zum Besten eingerichtet ist, dann ist das, was ist, auch alles, was je sein wird.  Und nichts könnte schärfer über diesen objektiven Nihilismus urteilen als das religiöse Verbot der Selbsttötung: dass die Menschen, bei Strafe ewiger Höllenqualen, in dieser Welt auszuharren gezwungen sind, statt, wie es nur allzu nahe läge, so rasch es geht zu einer besseren vorzustoßen.

Nur gilt die Aporie genauso und erst recht für den modernen Naturalismus. Die Faszination für die heidnische Ganzheitlichkeit übersieht, dass sich mit der Natur verbunden nur fühlen kann, wer ihrem Zugriff geschichtlich bereits entronnen ist. In den archaischen Kulten war die erste Natur nur insoweit Quelle der Inspiration, als sie zugleich Quelle aller Schrecken war; aus deren ritueller Reinszenierung erwuchsen die ersten, rohen Götter. Das Lob des unverbildeten Menschen, der sich nimmt, wie er von Natur aus ist, statt sich einem jenseitigen Ideal zu unterwerfen, reproduziert diese Schrecken auf höherer Stufe - nicht mehr der ersten, sondern der zweiten, gesellschaftlich potenzierten Natur.

Dawkins Klage, dass »unsere Spezies als Einzige nicht einfach zum Tierarzt gehen darf, um sich schmerzlos aus dem Elend befreien zu lassen«, spricht da Bände. Sein Wunsch, es möge ihm dereinst »das Leben unter Vollnarkose herausgenommen werden, als wäre es ein erkrankter Blinddarm« (GW 494f.), plaudert aus, wie man sich die Überwindung des »Speziezismus« (GW 377), die Dawkins im Anschluss an Peter Singer fordert, vorzustellen hätte: nicht als Erhöhung des tierischen Lebens, sondern als Erniedrigung des menschlichen. Keiner Kreatur wird die Reduktion aufs Kreatürliche gerecht. Denn als reine Naturtatsache begriffen, kennt das Leben bloß ein Telos: den Tod. Oder, wie Pohrt einmal bemerkte: der nackte Körper im Biologiebuch gleicht nicht dem Stripteasetänzer, sondern der Leiche.

Dass nämlich Materialismus fordere, den Menschen bloß als Ensemble biochemischer Prozesse zu begreifen, ist ein folgenschweres Missverständnis. Es ist vielmehr das Kapital selber, das mit chirurgischer Präzision das Natursubstrat der Gattung freilegt und von allen theologischen Auswüchsen befreit. Kein Zufall daher, dass die Pfaffen, mit denen man sich in Fragen der Abtreibung aufs Messer bekämpft, im Widerstand gegen genetische Selektion und Sterbehilfepropaganda zu den letzten Verbündeten rechnen. Für das, was im Menschen der Entwürdigung zur disponiblen Biomasse widersteht, kennt auch der Materialismus keinen anderen Begriff als den - von Naturalisten wie Postmodernen gleichermaßen übel beleumundeten - der Seele. Bei dessen Bestimmung allerdings verlässt er sich auf keinen Beistand von oben. Denn was die Pfaffen damit implementieren, um das Individuum seiner Nichtigkeit, dem bloß Naturhaften, zu entheben, degradiert ja gleichfalls den individuellen Leib zur bloßen, vergänglichen Trägersubstanz: zum Kerker des göttlichen Funkens. Damit nicht alles eitel sei, wird vom Daseienden als unwesentlich abgestreift, was ihm, und nur ihm allein, eigen ist. Stets vertrug sich daher die Beschwörung der unsterblichen Seele mit der Tortur des sterblichen Leibs.

Wahr ist der Begriff der Seele nur, wenn darunter kein Ding mit Ewigkeitswert verstanden wird, sondern, ganz im Gegenteil, das zerbrechlichste und damit kostbarste. Seele ist das, worin der Leib zu mehr als Leiblichem zusammenschießt - und was also mit ihm gebrochen werden kann. Als das, was den Einzelnen individuiert, indem es dessen bloße Individualität transzendiert, steht sie ein für das Glück, wenn das, was im Subjekt, mit dem, was im Objekt mehr ist als sie selber, korrespondiert - den Glücksfall authentischer Erkenntnis.

Die Wahrheit des Sündenfalls

Mit der Wahrheit steht daher die Theologie dort im Bunde, wo sie ihren Keil ins bloße Gegebensein treibt. Der Sinn, mit dem sie die Ritzen des Weltenbaus zu stopfen sucht, verfällt leicht genug der Kritik; was die Menschheit ihr verdankt, ist, ganz im Gegenteil, der Sprung im Dasein, ohne den sie nicht einmal als Gedanke möglich wäre. Keine Wahrheit, auch nicht die der Gattung, ohne die Spaltung in Subjekt und Objekt; keine Reflexion, das Hin und Her der Gedanken, ohne Spaltung im Subjekt selber.

Nach Gilbert Keith Chesterton, dem großen katholische Freigeist, beweist sich die Liebe Gottes zu seinen Geschöpfen genau darin, dass er sie der Harmonie mit sich und ihrer Umwelt entreißt: »Liebe will das Individuelle; Liebe will daher das Geschiedensein. Dass Gott die Welt in kleine Stücke zerbrochen hat, begrüßt das Christentum mit instinktiver Freude, denn es sind lebendige Stücke. [...] Alle modernen Philosophien sind Ketten, die binden und behindern; das Christentum hingegen ist ein Schwert, das schneidet und befreit. Keine andere Weltanschauung lässt zu, dass Gott über die Aufspaltung der Welt in lebendige Seelen frohlockt.«22

Eben deswegen ist so schwer zu bestimmen, ob die Vertreibung aus dem Paradies nun eigentlich die Strafe oder den Lohn für Evas Ungehorsam darstellt. In Hacks' Worten: Gott »schimpft, aber er macht ihnen Hosen.«23 Oft ist ja bemerkt worden, dass die Heilige Schrift den Garten Eden zwar an den Anfang, beileibe aber nicht in den Mittelpunkt stellt; die paradiesische Alleinheit mit Gott ist nicht mehr als ein Vorspiel. Den eigentlichen Beginn der menschlichen Zeitrechnung, das Kernstück der Thora, bildet stattdessen der Auszug aus Ägypten. Dessen konstitutiver Beitrag zum Fortschritt aber besteht nicht bloß im Entschluss, die Sklaverei nicht länger zu ertragen, sondern - ganz wortwörtlich - im Fortschreiten. Was die Exodus-Erzählung religionsgeschichtlich einzigartig macht, ist die Tatsache, dass der Zug ins Gelobte Land nicht zurück an einen mythischen Ursprung führt, sondern vorwärts in eine unbekannte Zukunft.24 Ist aber der Fortschritt, der Bruch mit der mythischen Zyklizität der Zeit, einmal als solcher gesetzt, bedeutet jedes Dahinter eine Regression. Denkmöglich wird das Paradies nur noch als Chiffre jenes unnennbaren Verlustes, der die Menschheit freisetzt zur Geschichte.25

Es zerbirst an seiner eigenen Dialektik. Der vollkommene Zustand, lehrt die Schöpfungsgeschichte, muss noch, soll ihm nichts fehlen, sein eigenes Gegenstück enthalten, das Unvollkommene. Weist nichts in ihm über ihn hinaus, schlägt er um in tödliche Starre. Wenn Peter Hacks von der Aufgabe der marxistischen Kunst spricht, »das Christentum vor den Christen zu retten«, und dabei nicht allein dessen »aufhebenswerten Schönheiten« im Sinn hat, sondern ausdrücklich auch dessen »aufhebenswerte Erkenntnisse«26, dann geht es ihm, wie Chesterton auch, um genau diese Theodizee der Negativität: dass das Bewusstsein dessen, was fehlt, Bedingung von Bewusstsein überhaupt ist, seiner Wahrheit. Ohne die perennierende Negativität gäbe es weder Möglichkeit noch Grund, sich im Objekt zu verlieren, um es erkennend zu bewahren; zu erkennen also im Sinne des biblischen »und sie erkannten einander als Mann und Frau«, die eben die Liebe zum Anderen meint. Und die schönste Interpretation dieser Äquivokation, Siegel ihres utopischen Gehalts, findet sich in Miltons Epos Paradise Lost: dass Adam nicht aus Schwäche oder Ignoranz vom Apfel kostet, sondern im festen Entschluss, lieber auf ewig von Gott getrennt zu werden als jemals von der gefallenen Geliebten27.

Wie blass wirkt demgegenüber der Herr mit seinen geschlechtslosen Heerscharen. Nicht der Mensch, sondern Gott ermangelt des Entscheidenden, eines ursprünglichen Mangels: jener unstillbaren Begierde, die der Verlust einer ursprünglichen Einheit speist. Vollkommen identisch mit sich, fristet das höchste Wesen das Dasein eines Eigenbrödlers, der - wie das Alte Testament berichtet (Gen 1,26 u. öfter) - gerne mit sich selber redet. Alles zu sein und zugleich der eine, verwickelt halt laufend in Widersprüche. Kein Zufall, dass sein Ebenbild in doppelter Ausführung kommt; kein Zufall auch, dass genau das es seinem Schöpfer überlegen macht.

Profane Erlösung

Vor seinen eigenen Widersprüchen rettet Gott, das ist sein immerwährendes Dilemma, kein höh'res Wesen (und erst recht keine christliche Trinitätslehre). Bürgen nicht die Menschen für ihn, ist's um ihn geschehen; verleugnet aber die Gattung, wie sie es gewöhnlich tut, stattdessen sich selber, stehen noch und gerade ihre profansten Taten für das ein, was ihr möglich wäre. Nur durch Profanisierung sind die hochheiligsten Versprechen der Menschheitsgeschichte einzulösen; zu retten, was als wenn auch verkehrte und verdrehte, so doch zugleich gigantische Geistesanstrengung in jener Blutspur nicht aufgeht, welche die Religion durch die Jahrhunderte zieht. Und die Fragen, die sie dem Materialismus aufgibt, werden ohne göttlichen Beistand nur umso drängender: wie jenes Unbedingte zu fassen wäre, dessen die Wahrheit bedarf, um sich über die Dinge zu erheben; worin also die Bedingung der Möglichkeit von Transzendenz, des Überschusses übers Bestehende, kurz: des Neuen besteht.

Das macht den unterschwellig theologischen Charakter jeder Revolutionstheorie aus, die es ernst meint. Ihr ist es um eine Welt zu tun, der gegenüber sich die Subjekte nicht in Selbstbehauptung verhärten müssten; eine, die wahrhaftig wie von Gott geschenkt erschiene. Der Verein freier Menschen mag, nach Marx' berühmtem Satz, das aufgelöste Rätsel der Geschichte darstellen; aber er muss diese Geschichte, als eine der Freiheit, zugleich erst konstituieren, kann nicht bruchlos aus ihr hervorgehen - und erst recht nicht als Ergebnis der souveränen Willkür jener Subjekte, die es noch gar nicht wirklich sind. Als das genuin Neue sprengt der Kommunismus das Gleich um Gleich der Vorgeschichte, das Kontinuum von Gewalt und Herrschaft, Ursache und Wirkung. Ihm eignet daher ein Moment, für das es kein anderes als das theologische Vokabular gibt: das des Wunders.

Der befreite Zustand wäre gerade einer, der mehr wäre als redlich verdient: »Erlösung ist keine Prämie«, schreibt Benjamin in seinem »Kafka«-Essay.28 Sein Werk macht die Probe darauf, was es heißt, keine Instanz mehr über sich zu haben, vor der Ansprüche geltend zu machen wären. Die Welt, der es gilt, erweist sich als wahrhaft gottverlassen. Eben darum aber als eine, in der wahre, das heißt: nicht teleologisch vorgegebene Praxis möglich ist. Und diese kann, in tiefster Konsequenz, nichts anderes sein als zerstörisch - gerichtet auf die Zertrümmerung jenes organisch gefügten falschen Ganzen, das keine Luft zum Atmen läßt. Gegen die profane Hölle, in der wir leben, mobilisiert Benjamins revolutionärer Messianismus den disruptiven, sprengenden, eben: negativen Gehalt der Theologie.

Seinen nachhaltigsten Ausdruck findet dieser Zug in einem fast unscheinbaren, aber umso großartigeren Satz des Passagen-Werks: »Daß es ‚so weiter' geht, ist die Katastrophe.«29 Wie der Kafkasche Prozess, nach Benjamins Deutung, durch die pure Dauer der Verhandlung ins Urteil umschlägt, so auch der rastlose Vollzug des Immergleichen ins Verhängnis. Theologische Erfahrung wandert hier gänzlich ins Profane ein, um dessen dämonisches Antlitz hervorzukehren - und dessen mythische Unausweichlichkeit zu erschüttern. Irdische Glückseligkeit wäre davon nämlich nur um ein Weniges unterschieden: »Messianisch ist die Natur« - und damit auch die Naturgeschichte des Kapitals - gerade »aus ihrer ewigen und totalen Vergängnis«.30 Sie indiziert die Erlösungsbedürftigkeit alles Irdischen, derer eingedenk zu sein selber die Hoffnung auf Erlösung vorstellt. Denn das Eingedenken revidiert die Endlosigkeit des Leids, auf dessen Unabgegoltenheit es verweist, und ebenso die Flüchtigkeit des Glücks, dem es im Versprechen Dauer verleiht.

Ausgesprochen findet sich dies in jener jüdische Legende, die Benjamin im »Kafka«-Essay referiert. Eine Prinzessin, die verbannt, fern ihrer Landsleute, in einem fremden Dorf schmachtet, erhält Nachricht von ihrem Verlobten: Er habe sie nicht vergessen und sei auf dem Weg zu ihr. Um das Dorf, dessen Sprache sie nicht versteht, an ihrer Freude teilhaben zu lassen, richtet sie ein Festmahl aus. - Der Verlobte, so der Talmud, ist der Messias, die Prinzessin die Seele, das fremde Dorf der Körper; und die Legende die Antwort darauf, warum die Juden am Freitagabend ein Festessen feiern.

Derart, als Einstand von spirituellem Glück und sinnlichem Genuss, wäre Versöhnung historisch-materialistisch zu denken. Denn es ist ja nicht nur die Entfremdung vom Leib, die in die Anweisung auf dessen Verwöhnung umschlägt. Es ist die Abwesenheit des Messias´ selber, die ermöglicht, dass sein Wort, im denkbar unmittelbarsten Sinne, Fleisch werden kann: Fleisch zu einem Festmahl, das, beständig wiederholt, die sehnsüchtige Erwartung der Erlösung in Szene setzt, welche von Erfüllung nicht mehr zu unterscheiden ist.



ANMERKUNGEN:

1) Alle Zitate aus »So bitter, so traurig«, Spiegel Nr. 6 / 2009, S. 40ff.

2) Vgl. National Catholic Reporter, 26.01.2009, http://ncronline.org/node/3180

3) Hamburger Morgenpost, 03.02.2009, S. 2

4) Zit. nach Spiegel, a.a.O., S. 45

5) Das gilt erst recht für Bergdeutschland, wo es mit der FPÖ eine ganz auf die traditionelle Kombination von Deutschnationalismus und Antiklerikalismus zugeschnittene Partei gibt.

6) Dt.: Dawkins, Der Gotteswahn, Berlin 2007 [im folgenden GW]

7) Dt.: Hitchens, Der Herr ist kein Hirte, München 2007 [im folgenden HH]

8) Als deren buddhistisches Pendant kann der allseits als Friedensapostel und Weltweise umschwärmte 14. Dalai Lama gelten, den Hitchens nur am Rande streift. Was zu Herrn Dhöndrup, den Politiker, Publizisten und andere Promis vorzugsweise mit »Seine Heiligkeit« anzureden belieben, zu sagen ist, hat Colin Goldner in einer hervorragenden Monographie zusammengetragen: Dass in der Mönchskutte des Knuffelgottkönigs der Repräsentant einer mittelalterlichen Theokratie steckt, die, als sie noch konnte, wie sie wollte, die barbarischsten Foltermethoden ersann, um das Volk in Verblendung und die Bauern in Leibeigenschaft zu halten. Vgl. Goldner, Dalai Lama – Fall eines Gottkönigs, Aschaffenburg 2008.

9) Die entsprechenden Stellen lesen sich besonders beim Biologen Dawkins reichlich bizarr. Um zu zeigen, wie wunderbar die Natur es doch zuwege bringt, dass die Menschen zusammenarbeiten (und das heißt natürlich: Waren tauschen), verlegt er die aus der politischen Ökonomie bekannten Robinsonaden bis in die Tierwelt zurück: »Der Jäger braucht einen Speer, und der Schmied hätte gerne Fleisch. [...] Die Biene braucht Nektar, und die Blüte muss bestäubt werden. Blüten können nicht fliegen, also bezahlen sie die Bienen in Nektarwährung, damit diese ihre Flügel zur Verfügung stellen.« (GW 300)

10) Der jüngst erschienene 9. Band, der den Zeitraum Von der Mitte des 16. bis Anfang des 18. Jahrhunderts umfasst (Reinbek 2008), widmet dem weltgeschichtlichen Einschnitt der Conquista kaum mehr Seiten als den Machenschaften und Intrigen der christlichen Herrschern untereinander – und übersieht so nicht nur das historisch Neue: die Konfrontation der christlichen Eroberer mit einer Menschengruppe, die in der Bibel nicht vorgesehen war, sondern bringt dadurch auch die völkermörderischen Konsequenzen, den Übergang von theologischen zu rassebiologischen Legitimationsstrategien, zum Verschwinden.

11) Vgl. Christoph Horst, »Pleonasmus Unmensch«, in: Konkret 2/05, S. 51

12) Aschaffenburg 2007. – Was zu der Affäre zu sagen ist, hat Henryk M. Broder gesagt: dass das Problem des Buches nicht darin besteht, sich über Rabbis, Bischöfe und Muftis lustig zu machen, sondern in der Gutmenschlichkeit, mit der es das tut. So sehr den Atheisten, angesichts der Millionen auf Kinder zugeschnittenen christlichen Propagandaschriften, ihr Kleines Ferkel zu gönnen ist, so sehr wäre Kindern Literatur zu wünschen, die nicht erbauliche Gesinnungen verbreiten, sondern ganz unmoralisch Spaß machen will.

13) Paul Thiry d‘Holbach, Religionskritische Schriften, Berlin u. Weimar 1970, S. 73.

14) Ebd., S. 78

15) Das gilt nicht bloß für die positivistischen Religionskritiker, sondern auch, bloß unter umgekehrten Vorzeichen, für jene poststrukturalistischen ‚Bible Studies‘, deren Ergebnisse der Sammelband Bibel als Literatur (München 2008) erstmals dem deutschen Publikum zugänglich macht. Programm ist auch dort der Verzicht auf historisch-kritische Methodik, diesmal zugunsten von Saussurescher Textanalyse und »close reading«. Die dokumentierten Aufsätze, welche sich mit einer Ausnahme dem Alten Testament widmen, picken sich aus dessen Korpus die schriftstellerischen Perlen heraus; und so anregend die Ergebnisse sein können, zu denen sie dabei kommen, so sehr sind sie doch erkauft mit der Konstruktion einer biblisch-literarischen Idylle, aus der die hässlichen, blutigen, eben: der Realgeschichte gemäßen Passagen ausgeschlossen bleiben.

16) Insbesondere in der christlichen und muslimischen Rezeption. Vor allem der Koran tut alles, um die innere Spannung der ursprünglichen Erzählung zu beseitigen. Während der Abraham des 1. Buch Mose Isaak über dessen Schicksal so lange wie möglich zu täuschen versucht und in seiner Not vorgibt, gemeinsam mit ihm ein Schaf opfern zu wollen, eröffnet der mohammedanische Abraham (Sure 37, 100-106) seinem Sohn frank und frei, was er vorhat – womit dieser dann auch sofort einverstanden ist. Vgl. dazu den lesenswerten Aufsatz von Jihad Jiko, »Die Verleugnung der Ambivalenz«, in: Psyche 1/2004, S. 26-46.

17) Interessanterweise ist genau das der grundlegende Vorwurf, den das Ferkel-Bilderbuch gegens Judentum erhebt: dass in ihm nicht einfach jeder mitmachen darf.

18) Vgl. Assmann, Monotheismus und die Sprache der Gewalt, a.a.O.; ders., Die Mosaische Unterscheidung, München 2003, sowie ders., Moses der Ägypter, Frankfurt am Main 2003. – In seinen neueren Veröffentlichungen tritt Assmann sehr viel differenzierter auf und weist simplifizierende Lesarten (etwa die bekannte antisemitische Rede vom ‚alttestamentarischen Rachegott‘) entschieden zurück. Dennoch bleibt er dem Krux jeder Geistesgeschichte verhaftet, die Tat als Reflex auf den Gedanken zu begreifen statt umgekehrt – mit der Folge, im theologischen Wahrheitsanspruch den logischen Anspruch, nicht dessen mythische Beschränkung zu problematisieren.

19) Brief an Erich Doflein, 7.1.1956, in: Th. W. Adorno / E. Doflein, Briefwechsel, Heidelberg 2006, S. 200.

20) »Denn wie noch heute der Glaube der Naturvölker keinen Absolutheitsanspruch eines ‚höchsten‘ Wesen kennt, so herrschte auch im antiken Hellenismus Toleranz. Exklusivität widersprach dem Polytheismus prinzipiell. [...] Man war großzügig, freundschaftlich-kollegial, ließ zu allen möglichen Göttern beten, glaubte, in anderen die eigenen wiederzufinden, und ‚Bekehrung‘ betrieb man überhaupt nicht.« (Kriminalgeschichte des Christentums, Bd. 1: Die Frühzeit, Reinbek 1986, S. 120) Ach, wie gern wär‘ man da, ganz großzügig und kollegial, Moorleiche geworden.

21) Ausgenommen davon wird manchmal allein der Islam, und das nicht ohne Grund. Nicht bloß, dass seine Vision vom Paradies (und überhaupt die Einstellung zur Sexualität) an feuchte 68er-Männerphantasien erinnert; auch sonst erscheint, was als Legitimationsideologie eines Räuberhauptmanns begann, erstaunlich lebensnah. Weniger mit abseitigen theologischen Erörtungen als mit der handfesten Regelung irdischen Lebens befasst, nervt der Islam wenig mit spirituellen Spitzfindigkeiten, sondern hat, ganz undogmatisch, im Bedarfsfall immer einen hilfreichen Hadith zur Hand. Das, gepaart mit einem wenig skrupulösen Verhältnis zur Gewalt, macht ihn in postideologischen Zeiten zur idealen Willkürreligion.

22) G.K. Chesterton, Orthodoxie, Frankfurt am Main 2000, S. 248f.

23) Peter Hacks, »Über ‚Adam und Eva‘«, Werke Bd. 15, S. 187.

24) Vgl. Michael Walzer, Exodus und Revolution, Frankfurt am Main 1995, S. 20ff.

25) Vielleicht erklärt das die Blässe so vieler jüdisch-christlicher Paradiesvorstellungen. Das Gesamtbild, das sich aus den reichlich uninspiriert zusammengestellten Fragmenten in Vorgrimlers Geschichte des Paradieses und des Himmels (München 2008) ergibt, erscheint jedenfalls so amorph, wie das der Hölle üblicherweise klar konturiert ist.

26) Hacks, a.a.O., S. 185.

27) Milton, Paradise Lost, Oxford 2004, Book IX, v. 896ff.28) »Franz Kafka«, Ges. Schriften Bd. II.2, S. 423.

28) »Franz Kafka«, Ges. Schriften Bd. II.2, S. 423.

29) »Zentralpark«, a.a.O., Bd. I.2, S. 683.

30) »Theologisch-politisches Fragment«, a.a.O., Bd. II.1, S. 204.


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