Aktuell: 

Mai, 2019:
Ausgabe #10 ist erschienen

Walter Schrotfels

Menschliches, Allzumenschliches

Rezension von Jonathan Littels Die Wohlgesinnten


I. »Ich bin wie ihr«

Es ist ein langer Weg, bis man die 1354 Seiten (zuzüglich eines umfangreichen Glossars) des Bestsellers Die Wohlgesinnten des französischen Autors Jonathan Littell hinter sich gebracht hat. Vielleicht hat man bereits vergessen, was einen dazu bewogen hat, seine Zeit mit der Lektüre eines - so heißt es - ‚Nazi-Romans' zuzubringen. Vielleicht lag es am Namen des Autors, der über mehrere Wochen aus dem deutschen Feuilleton nicht wegzudenken war. Vielleicht waren es auch die vielen publizistischen Verrisse oder die Lobeshymnen, wie die Elke Heidenreichs, Claus Peymanns und anderer, und die sich an solche rasch erschienenen Besprechungen anschließende Frage, was das wohl bedeute, dass man nach dem Lesen dieses Buches ein »Anderer« und »heller« sei, so zumindest die verheißungsvolle Formulierung bei Heidenreich. Schließlich überwog die Neugier und man kämpfte sich also durch den zähen, teilweise spannend bis belanglos kurzweiligen, oft jedoch grotesk überdrehten Roman. Möglicherweise kam der letzte Anstoß zur Lektüre durch einen für das Thema nicht untypisch »deutschen« Ton in den Rezensionen, also durch jene Kommentare deutscher Rezensenten, die so herrlich lamentierten und sich »ihren« Nationalsozialismus keinesfalls vom (auch noch jüdischen) in Frankreich lebenden Amerikaner klauen lassen wollten.1

Jonathan Littell hat nach gut fünf Jahren Recherche und Niederschrift ein Buch vorgelegt, das zunächst als historisch-fiktionaler Roman daherkommt, der bei seinem Erscheinen in Frankreich und Deutschland sofort heftige Diskussionen auslöste. Mit 39 Jahren hat er einen Weltbestseller geschrieben, obwohl er kokettierend einräumt, eigentlich gar kein Schriftsteller sein zu wollen. Dann weigerte er sich, den hochdotierten Prix Goncourt anzunehmen und hat am Ende den Deutschen noch sinngemäß entgegengeworfen, dass in jedem irgendwie ein Nazi stecke. Die Wohlgesinnten suggeriert dies schon im wohlplazierten ersten Satz: »Ihr Menschenbrüder, lasst mich euch erzählen, wie es gewesen ist.« Ein penetrantes »Du« versucht von Anfang an, die Distanz zwischen dem Nationalsozialisten Dr. Max Aue und den Lesern aufzuheben. Schlussendlich spricht er: »Hört mal, wenn ich es euch doch sage: Ich bin wie ihr.«2 Dass die Leser hier nicht nur zu Komplizen, sondern zu Gleichen  gemacht werden, hat allgemein irritiert und legt das Fundament für Littells theoretisches wie literarisches Unterfangen.  

Protagonist ist der in den Rechtswissenschaften promovierte homosexuelle SS-Mann Max Aue. Aus der Ich-Perspektive spricht er über die Zeit von 1941 bis 1945, die von der Ukraine nach Stalingrad, dann nach Berlin in das Umfeld von Eichmann und Himmler führt, und schließlich auch nach Auschwitz. Unterbrochen wird Aues Aufstieg in der Nazi-Hierarchie durch deliröse, traumhafte und surreale Sequenzen, die zurückführen zu Aues inzestuöser Beziehung mit seiner Schwester, letztendlich zum Mord Aues an seiner Mutter und seinem Schwiegervater.

Der historische Rahmen ist minutiös recherchiert. Real existierende Personen, Orte und militärische Zusammenhänge sind die Grundlage, auf der Littell die Fiktion aufbaut. Immer wieder werden Zitate in den Text eingeflochten, die zwar als solche durch Kursivierung kenntlich gemacht, deren Herkunft aber nicht immer ausgewiesen wird. Der historische Standort, von dem aus Max Aue sich an die Leser wendet, ist eine nicht näher spezifizierte Nachkriegszeit. Er wirkt wie eine verbreiterte, fast schon ewige Gegenwart, die so weit zurückreicht, dass der/die kundige LeserIn fast jede akademische oder publizistische Debatte über den Nationalsozialismus der letzten 60 Jahre im Text wiederzufinden glaubt. So ambivalent und unbestimmt die Erzählposition auch angelegt ist, so deutlich ist doch, dass es eine französische Erfahrung ist, die Max Aue als Nachkriegsfigur präformiert. Dafür sprechen weniger die strategisch eingezogenen Beziehungen Max Aues zu Frankreich - seine Mutter ist Französin, Aue selbst ist frankophon, stellenweise auch frankophil -, sondern Anspielungen Nachkriegsdebatten, die für das französische Gedächtnis zentral sind, so die Passagen über den Algerienkrieg (28).

Es gibt tatsächlich nicht viele Romane in Frankreich, die sich auf den Nationalsozialismus als historisches Setting eingelassen haben, was einiges am Medienrummel erklären könnte.3 Und auch in Deutschland war die mehrheitlich negative Kritik verbunden mit der Frage, ob man das »dürfe« und was letztendlich aus dem Roman »folge.« Wer jedoch so fragt, der hat bereits bemerkt, dass es Littell um mehr geht, als um Darstellung und Beschreibung, sei sie nun schöngeistig oder nicht. Dieses »mehr«, folgt man den Interviews Jonathan Littells, ist eigentlich eine relativ klar umrissene Problemstellung. Sie wird versucht, durch Interpretation und fiktionale Anordnung von historischem Material in den Griff zu bekommen: »Ich wollte nur auf eine einfache Frage antworten, die sich mir stellte. (...) Was ist die Natur von Staatsverbrechen?«4  Nach der Lektüre des Marginalienbandes lässt sich das noch präzisieren: Littell geht es um nicht weniger als die Natur des Bösen in der Moderne.5 Das hat nicht zuletzt, so wird zumindest nahegelegt, auch einen biographischen Hintergrund. So wurde immer wieder betont, dass Littell 1993 in Sarajevo, später Bosnien und Tschetschenien humanitäre Arbeit geleistet hat. Schon die Widmung des Buches - »Für die Toten« - zeigt, dass es Littell also um einen universellen Zusammenhang geht, keineswegs ein historisch partikulares Ereignis. Wenig überraschend in diesem Zusammenhang auch die später noch näher zu betrachtende totalitarismustheoretische Schlagseite des Romans.

Es geht Littell nicht um den Nationalsozialismus als Barbarei sui generis. Und dennoch scheint das Material eigene Zentrifugalkräfte zu entfalten, die Littell dazu drängen, Fragen aufzuwerfen, die sich eben nur der Singularität der Judenvernichtung verdanken. Es werden innerhalb des Buches nicht nur intentionalistische - also auf Hitler fokussierte - und funktionalistische Erklärungsversuche des Dritten Reiches gegenüber gestellt, sondern auch die großen, zeitübergreifenden Fragen der Holocaust-Forschung: Warum die Juden? Warum die Deutschen? Doch der Gesamtstruktur ist das äußerlich und wie sich Littell jenen Fragen stellt, unterstreicht das. Ihm geht es um den nicht näher spezifizierten, jedoch in der kulturell gebildeten Mittelklasse angelegten ‚Menschen' des 20. Jahrhunderts und dessen Potenzial zur Gewalt. Dafür ist der Nationalsozialismus ein Besonderes, dessen literarische Analyse die Tür öffnen soll zu einem Verständnis des Allgemeinen. Maßstab für ein solches Unterfangen ist, ob jener historische bestimmte Zusammenhang nach der Einfügung in die allgemeine Geschichte der Gewalt des 20. Jahrhunderts noch als solcher zu erkennen ist oder ob er zum widerstandslosen Material eines intellektuellen Unterfangens geworden ist.

Wenn es stimmt, dass das Buch im Wesentlichen ‚theoretisch' ist, dann könnte sich der starke Bezug auf die Totalitarismustheorie in diesem Zusammenhang als Stolperstein erweisen. Zwar stimmt, dass es Jonathan Littell um die Deutschen geht. Doch es stimmt auch, dass Littell sagt: »Die Deutschen sind wir, jeder ist ein Deutscher.«6 Dieser verallgemeinernde Sog zieht bereits in den Fragen, die Littell an das reiche historische Material stellt und in den Akzenten, die er in der Darstellung setzt. Ein zentraler Aspekt dieser Vorannahmen besteht darin, dass für Littell die Moderne vor allem durch Bürokratie charakterisiert ist. So fasziniert ihn an Claude Lanzmanns Shoa vornehmlich dessen Auseinandersetzung und filmische Darstellung der logistischen Probleme bei der Umsetzung der Judenvernichtung.7 Plastisch wird das im Buch an der verwirrenden Menge von bürokratischen und institutionellen Zusammenhängen, Zuständigkeiten und Streitereien um selbige. Bedeutsam ist es, weil es die Frage nach der »Rationalität« eines ideologisch motivierten Krieges, dessen negativer Höhepunkt in der Vernichtung der europäischen Juden bestand, auf den Plan ruft.8

II. Die Anatomie des Romans: Zwischen Literatur und Theorie

Dass man ständig - vorausgesetzt man hat ein wenig Einblick in die Forschung bezüglich des historischen Gegenstandes - Parallelen zu intellektuellen Debatten ziehen kann, verweist auf ein anderes Merkmal des Buches, welches wiederum darauf hinweist, womit man es hier eigentlich zu tun hat. Die Wohlgesinnten wirkt über weite Strecken stark durchkomponiert und konstruiert, in vielen Teilen minutiös angeordnet, im Ganzen fast schon überchoreographiert. Es scheint, als schreibe Littell weniger als Schriftsteller oder Romancier, sondern als sei es vielmehr ein Roman, geschrieben von einem Intellektuellen für Intellektuelle. Dies beruht auf dem Umstand, dass scheinbar alle Debatten, die in den letzten 60 Jahren um die Fragen nach Schuld und Schuldfähigkeit, Struktur und Motiven, nach »Aufarbeitung« und »Bewältigung« der Vergangenheit, der Vergleichbarkeit von Sowjetherrschaft und Nationalsozialismus und nicht zuletzt auch die nach der Singularität der Shoa und ihrer Darstellbarkeit, in den Roman eingeflossen sind. Das führt dazu, dass die Debatten auch in Litells Roman ihren Gegenstand stellenweise noch einmal zu überformen scheinen. Zunächst spricht das für den extrem hohen Anspruch des Autors, auf der Höhe der historischen Forschung Literatur zu schreiben. Unabweisbar und letztlich entscheidend für bestimmte Schwerpunktsetzungen ist der Bezug auf Raul Hilbergs Pionierwerk Die Vernichtung der europäischen Juden. Von Christopher Browning und Daniel J. Goldhagen stammen die Ausführungen über die Polizeibataillone, das gesamte erste Kapitel demontiert minutiös den Mythos von der »sauberen« Wehrmacht und dem Befehlsnotstand und bezüglich des Treffens von Max Aue mit Adolf Eichmann drängt sich einem die Debatte um die »Banalität des Bösen« (Hannah Arendt) auf. Wer seinen Protagonisten über einen Wald sprechen lässt, den man nun nur noch als geeigneten Ort für Erschießungen sehen kann, der weiß von Brechts Gedicht, dem Gespräch über Bäume und Adornos Aphorismus (529). Und wer seitenlange Monologe über den Zusammenhang zwischen deutscher Pflichterfüllung und der Kantischen Kritik der praktischen Vernunft einbezieht, der kennt vermutlich John Deweys Theorie über die geistigen Ursprünge des Nationalsozialismus.

Dass sich die Inhaltsebene - möchte man einmal diese mechanische Trennung einziehen - auf einem derart komplexen Level bewegt, führt zu gewissen Spannungen mit dem, was man die Formebene des Romans nennen könnte. Eine Textstelle, die für die interessierten und informierten Leser9 intellektuell gleichsam überläuft, korrespondiert in keiner Weise mit mäßig einfallsreichen, eher deskriptiven Stellen des Romans. Manchmal verlieren sich die Beschreibungen derart im Detail oder schweifen so stark ins Weite, dass die LeserIn überladen zurückbleibt und man am Ende eben nur weiß, dass Max Aue irgendwann einmal vor einem Gebirge in der Ukraine gestanden hat. Auch die Verbrechen werden detailliert beschrieben, allerdings mit der Detailtreue und der Sachlichkeit eines Pathologen oder seinen bürokratischen Äquivalents, dem Sachverständigen. Dabei verstetigt sich die betont explizite Darstellung manchmal soweit, dass der Leseeindruck bei der Beschreibung eines ukrainischen Bergdorfes nicht anders ist, als der bei einer der zahlreichen »Sonderaktionen.« Wäre es ein Ziel des Romans gewesen, in den Lesern etwas von der Abstumpfung des Frontsoldaten zu reproduzieren - die den exzessiven Gewaltausbruch begleitete, wenn nicht sogar überstieg -, es könnte als erreicht gelten. Natürlich kann ein solches Buch keine erbauliche Literatur liefern. Das feuilletonistische Lamento über den Ekel bei der Lektüre handelt sich deswegen schnell die Frage ein, was man bei einem Text über dieses Thema denn anderes erwartet habe. Dabei waren es gar nicht vorrangig die Beschreibungen von Krieg, Massaker und Vernichtung, die aufstießen. Vielmehr irritierten die ellenlangen Traum- und Erinnerungssequenzen bezüglich des Trieblebens von Max Aue. Die Irritation ist dabei keine Sache des Geschmacks, sondern sie stellt die Frage nach der Funktion im literarischen Gesamtgefüge und die ungleich schwerwiegendere nach dem Verhältnis von Inhalt und Form.

III. Das totalitäre Subjekt

Um die so eindrücklichen Beschreibungen der Mordaktionen einerseits und der Triebstruktur des Protagonisten anderseits richtig einschätzen zu können, muss man sich vergegenwärtigen, wie die Person von Max Aue literarisch eigentlich angelegt ist. Weder wird er als ein klassischer Held präsentiert, noch als ein ‚Charakter' im allgemeinen Sinne. Dr. Max Aue ist eine Konstellation aus subjekttheoretischen Momenten, angeordnet mit dem Ziel, möglichst viele Facetten totalitärer Herrschaft verdeutlichen zu können. Die Kritik der Rezensenten, einen Nazi wie Max Aue könne es gar nicht gegeben haben, zielt deswegen ins Leere. Max Aue soll nicht ‚realistisch' sein, sondern sollte vor allem als Element einer subjekttheoretischen Spekulation gelesen werden, verpackt in das Medium der Literatur.

Wie bereits erwähnt beginnt das Buch damit, dass sich der Protagonist auf die Ebene der Leserschaft begibt. Und das gerade nicht gruppenspezifisch, sondern in jener ganz globalen Weise, wie sie die anmaßend empfundene Anrede »Menschenbrüder« ausdrückt.  Aue - und damit wohl auch Littell - will die angebliche Distanz zwischen dem als friedlich und zivilisiert empfundenen Normalzustand und dem Extrem aufheben. Aus diesem Grund ist Aue auch von vornherein als kultivierter, Musik liebender Intellektueller angelegt und nicht als rückgratloser Mitläufer oder fanatischer Ideologe. Freilich drückt sich darin nicht minder ein kulturemphatischer Anspruch von Littell selbst aus, denn nur dieser macht den Umstand, dass Kulturalität nicht vor Barbarei schützt, erklärungsbedürftig. Der Protagonist und Erzähler schafft immer wieder eine Beziehung zwischen sich und den Lesern. Mehrmals setzt er zu Erklärungen und Rechtfertigungen an, die auf ein »An meiner Stelle hättet ihr genauso gehandelt« hinauslaufen. Seine Handlungsmaximen versucht er durchweg als nachvollziehbar, unverblendet, in einer gewissen Weise als durch und durch politisch-rational darzustellen. War Aue am Anfang noch unfähig, sich im harten Karriere-Gerangel des Nationalsozialismus zurechtzufinden - Musterbeispiel dieser Tugenden ist Aues Freund Thomas - wächst er nach und nach in eine Rolle hinein, die gefestigt durch eine klare politische Position, der Glaube an die Notwendigkeit der nationalsozialistischen Revolution, seinen Platz im großen Ganzen gefunden hat. 

Doch der Weg ist keineswegs geradlinig. Alle Ambivalenzen des Protagonisten, alle Umwege und Unwägbarkeiten haben mit der funktionalen Mehrdimensionalität Max Aues zu tun. So fällt es ihm schwer, die unkontrollierte, ungezügelte Gewalt des Kriegs im Osten zu ertragen. Sein intellektuelles Bedürfnis nach geordneten Verhältnissen, nach Zwecken und Mitteln und nach einer möglichst wissenschaftlichen Wahrheit kommt ihm immer wieder in die Quere. Dieser Unmut schlägt sich vor allem körperlich nieder und wie die Massaker, stellt Littell dies äußerst plastisch dar. Ein Teil der Abneigung, auf die Littell in den Rezensionen stieß, hatte vor allem mit der expliziten Darstellung des Körperlichen im Roman zu tun. Doch die Exkremente, das Blut und die drastischen Schilderungen von sexueller Gewalt sind mehr als nur Elemente in einer Darstellung, die verstören und Ekel erwecken soll. Sie sind das biologische Scharnier zu dem Subjekt, das Littell beschreiben möchte, und für das Max Aue als hermeneutisches Instrument herhält. Nicht zufällig gibt Littell als einen seiner Einflüsse Klaus Theweleits Männerphantasien an.10 Aue übergibt sich oder bekommt Durchfall, wenn ihn die Schuldgefühle überkommen. Ihm »kommt« im wahrsten Sinne des Wortes »die Natur« (Georg Büchner), wenn die professionelle Distanz zwischen dem Sachverwalter des Grauens und seiner Arbeit aufgehoben wird. Dazwischen finden sich Traumsequenzen mit Erinnerungen an die einzige Liebe seines Lebens, seine Zwillingsschwester, die bezeichnender Weise den Namen Una trägt. Immer wenn Aue träumt, wird es hässlich und man merkt, dass Littell, der in Yale Literatur und French Theory studiert hat, wohl auch einen Blick in die Bücher Sigmund Freuds, George Batailles oder Marquis de Sades geworfen hat.11 Das alles scheint sich nur allzu ungebrochen im Roman fortzusetzen. Nach der Geburt wurde der Protagonist Max Aue nicht gestillt, genau darum beneidet er aber seine Schwester, der diese Zuneigung zuteil wurde und die Schwester ist es auch, die als sein Ich-Ideal fungiert und so eine bedeutende Rolle in der Genese von Aues Homosexualität spielt. (518) Die Frage, warum Littell seinen Täter - und um diese geht es ihm ausdrücklich12 -   homosexuell sein lässt, ist damit noch nicht beantwortet. Ein mögliches Motiv wäre, dass der Autor - analog zur Intention von Klaus Theweleit bei seinem Bestseller Männerphantasien - an der Sexualisierung des Krieges oder der Erklärung von Gewalt aus der Triebstruktur interessiert ist. Abgesehen von der Frage, warum für letzteres die Homosexualität herhalten muss, ist beides wenig wahrscheinlich. Sexualität ist in Die Wohlgesinnten vielmehr Residuum einer verlorenen Unschuld, nur dass diese bereits an ihren Anfängen pathogene und gewalttätige Züge trug. D.h. Sexualität - genauso wie übrigens Natur - erscheint im Roman zwar als »krank« und »pervers« und soll offensichtlich den Zuschauer schocken und irritieren, fungiert aber als Erinnerung an etwas, das dem Grauen in dem Aue sich befindet, konträr entgegensteht. So erklärt das auch Littell: Max Aue ist als »Extrem« konzipiert, um das Normale stärker hervortreten zu lassen. Die Figur, so scheint es, ist pures Kontrastmittel, wie eine Chemikalie, die andere farblich hervortreten lässt.13 Vor allem aber sollen sich alle möglichen Facetten der Barbarei an die Figur heften lassen. 

Wenn man also den suggerierten Zusammenhang zwischen einem totalitären Subjekt und der Sexualität als zumindest brüchig ausgewiesen hat, bleibt die Frage, was das Totalitäre am Subjekt ausmacht. Pflichtbewusst soll er daherkommen, ganz wie Eichmann, der in der Verwaltung der Vernichtung eben eine Aufgabe unter anderen sah: »Was ich getan habe, geschah in klarer Erkenntnis der Sachlage, in der festen Überzeugung, es sei meine Pflicht, es sei unumgänglich, mochte es auch noch so unangenehm und betrüblich sein.« (30) Doch ist Aue kein Karrierist wie sein Freund Thomas. Dieser ist zwar ideologisch von seinem Tun überzeugt, käme aber in jedem anderen System ebenfalls zurecht. Es sind anthropologische, nicht gesellschaftshistorische Annahmen Littels, die Aue sagen lassen: »Die wirkliche Gefahr für den Menschen bin ich, seid ihr.« (35) Und auch der Zusammenhang zwischen Triebstruktur und Gewalt, der im Anschluss an Theweleit als offene Frage in der Luft hängt, weist nur bedingt auf soziale oder politische Dimensionen hin. Dennoch nimmt das Buch immer wieder die Leitfrage nach dem Verhältnis von Barbarei und Rationalität auf, die sich hauptsächlich in den jeweils spezifischen Interessen der einzelnen Behörden und Ämter äußert. Doch der Zusammenhang bleibt opak, verharrt in Andeutungen. Littell präsentiert ein Durcheinander von Menschen, die sich auf ganz verschiedene Art und Weise mit Gewalt arrangiert haben. Bei den einen setzt sich ungebrochener Sadismus durch, andere exekutieren die Ideologie kühl und eingehegt durch einen Begriff von Rationalität. Als Panorama nationalsozialistischer Praxis ist das zunächst durchaus anschaulich. Allein, der Erkenntnisgewinn dieses Bildes ist zu bezweifeln. Denn als Synthese des allgemeinen Gewaltpotentials kommt, zumal in der Phase des Krieges, in welcher Die Wohlgesinnten stattfindet, eigentlich nur der Antisemitismus in Betracht, den Littell in seiner Wichtigkeit aber eher gering veranschlagt, ja fast schon herunterspielt. Mindestens ebenso schwer wiegt die Frage nach Schuld und Verantwortung der totalitären Subjekte, eine Frage zudem, die sich weit über den Kontext des Nationalsozialismus hinaus erstreckt.

IV. Die Barbarei als Schicksal

Jonathan Littell wollte ein Buch über die Täter schreiben und seine Faszination für selbige hat er kaum versteckt. Nun wäre es eine eigene Beschäftigung damit wert, die Faszination der Nachgeborenen an den Tätern kritisch zu durchleuchten. Fraglich ist aber zunächst, was Littell durch die Täterperspektive gewinnt. Es ermöglicht ihm zum einen, die Frage nach Schuld und Verantwortlichkeit in einem relativ offenen Modus zu erörtern, denn schließlich ist die Sprecherposition in dieser Angelegenheit keineswegs unbedeutsam: ob ein omnipotenter Erzähler oder ein Täter über Schuld und Sühne spricht, macht eben einen Unterschied. Nur ist Max Aue - und das ist das Problem an der funktionalen Mehrdimensionalität des Protagonisten - zumindest in der Reflexion selbst als fast schon omnipotent charakterisiert. Der promovierte und kultivierte Max Aue weiß, dass er ein Täter ist und dass Täterschaft nicht erst beim Betätigen des Abzugs beginnt. Doch die Sphäre der Reflexion ist eine Sache, denn in der Praxis sieht für ihn die Frage von Schuld und Verantwortlichkeit um einiges ambivalenter aus. Keineswegs verzichtet Aue auf Rechtfertigungsfiguren, wie Jürgen Altwegg in einer Rezension noch vor Erscheinen der deutschen Übersetzung behauptet hat.14 Vielmehr betont Max Aue immer wieder die Konkordanz seiner Handlungen mit einer nicht weiter bestimmten Richtschnur des Handelns, der jeder andere auch gefolgt wäre. Doch jene Rationalität trägt die Züge eines übermächtigen Allgemeinen in dem das Zutun des Einzelnen zwar notwendig ist, von Autonomie aber keine Rede sein kann. Damit korrespondiert, dass die Kritik - und Littell selbst - immer wieder den intertextuellen Bezug auf ‚Aischylos' Orestie herausstellte.15 Nun ist der Zusammenhang zwischen individuellem Handeln und Schicksal, das zwar erkannt aber nicht verhindert, sondern nur vollzogen werden kann, zunächst ganz formal das klassische Sujet der griechischen Tragödie. Doch auch die Inhaltsebene der drei in der Orestie zusammengefassten Bücher findet ihren Weg in den Roman. Bereits der Titel der dritten Tragödie, die Eumeniden, lässt sich mit »Die Wohlgesinnten« übersetzen. Außerdem geht es in der Orestie um nichts weniger als um die Überführung des individuellen Racherechts in die moderne Rechtsprechung durch ein repräsentatives Kollektiv. Das lässt sich nicht nur auf Max Aues inner-familiären Rachefeldzug beziehen, sondern auch auf den Nationalsozialismus als  Unrechtszusammenhang, als den ihn die Niederlage kodifizierte, auch wenn diese Einsicht der Mehrheit der Deutschen weitgehend fremd blieb.  In Bezug auf Ersteres wird das Recht durch die beiden Polizeibeamten repräsentiert, die Max Aue verfolgen, nachdem dieser seine Mutter und ihren Geliebten umgebracht hat. In der Orestie entsprechen ihnen die Erinnyen, die Rachegöttinnen, die Orest nach dem - natürlich schicksalhaft vorgegebenen - Elternmord verfolgen. Und auf allgemeiner Ebene sind es immer wieder die Alliierten bzw. die Sowjetunion, den gegenüber sich Aue rechtfertigen und verorten muss. So ist auch der letzte Satz des Buches zu verstehen, als Max Aue auf der Flucht vor den Siegermächten feststellt: »Die Wohlgesinnten hatten meine Spur wieder aufgenommen.« (1359)

Doch es bleibt der Eindruck, dass gerade die tragische Dimension des Romans die Konzentration auf die Täterperspektive und die Frage nach Schuld und Verantwortung untergräbt. Max Aue ist von Reflexion derart überfrachtet, dass er zu einem mehr oder weniger passiven Spielball der schicksalhaften Ereignisse wird oder sich zumindest als solcher inszeniert.16 Dies würde auch mit Littells Fokus auf Strukturen, bürokratische Zusammenhänge und institutionelle Zuständigkeiten korrespondieren. Kein Zufall dann, dass Littell Max Aue ausführen lässt, dass der Antisemitismus und die durch ihn induzierte »Vernichtung um der Vernichtung willen« (Emil L. Fackenheim) keineswegs ins Zentrum der Singularität des Nationalsozialismus träfen (935). Zwar debattiert Aue immer wieder die Frage nach der Rationalität der Vernichtung, d.h. inwiefern die Konzentration aller Mittel auf die Judenvernichtung nicht in gewisser Weise kontraproduktiv sei. Doch dies führt lediglich dazu, dass Aue aus pflichtbewusstem Ordnungssinn »besser« dasteht als fanatische Antisemiten einerseits und bürokratische Sachverwalter der Vernichtung anderseits. Aue bleibt ganz einem Denken von Zwecken und Mitteln verhaftet und wird nicht zufällig mit der Aufgabe betreut, die Arbeitsproduktivität in den Lagern zu steigern. Von diesem Standpunkt kritisiert er auch die reichlich »unprofessionellen« Massaker in der Ukraine. Nur kommt es bei all dem auf eine irgendwie geartete Produktivität, abgesehen vom ideologischen Mehrwert, eben gerade nicht an, weswegen ihm die Erfüllung seiner Pläne auch reichlich schwerfällt. 

V. Die Frage nach dem Telos

Nun wäre gerade die Frage nach dem Telos der Kriegspolitik der Einstiegspunkt dafür gewesen, die Spezifik des Holocaust herauszustellen, doch das verhindert das totalitarismustheoretische Bezugssystem, das den Roman dominiert. Zudem betont Jonathan Littell immer wieder, dass es ihm eigentlich um etwas anderes geht als eine Analyse des Nationalsozialismus. Dem widerspricht jedoch die Inhaltsebene des Buches, denn über weite Strecken lässt Littell Max Aue genau jene Vergleiche zwischen Bolschewismus und Faschismus anstellen, mit denen die Totalitarismustheorie akademisch und politisch Karriere machte. Gleichgültig also, dass Littell vorgibt, mit dem Roman etwas anderes zu beanspruchen. Das Gespräch, das Max Aue in Stalingrad mit einem Kommunisten führt - wie Littell betont, handelt es sich dabei um eine Pastiche von Wassili Grossmanns Roman Leben und Schicksal - endet dann auch mit der Conclusio, dass sich der Nationalsozialismus kaum vom Sozialismus in einem Land unterscheidet. Leerstelle bleibt in diesem Entwurf der Antisemitismus. Zwar spielt er überall eine Rolle, sei es in seiner fanatisch-proletenhaften Version oder als gelehrte Position der gebildeten Oberschicht. Dessen Zentralität für den Nationalsozialismus streitet Aue - und Littell im Interview17 - aber konsequent ab.

Was bleibt am Ende der Lektüre? Zunächst der Eindruck, dass hier jemand durchaus etwas Großes unternommen hat. Zugleich aber eine gewisse Irritation, zum einen über das Resultat, zum anderen über die Angemessenheit der Form in Anbetracht ihres Inhalts. Jonathan Littell sagte in einem Interview, die Schwierigkeit bei der Rezeption des Buches hinge vor allem damit zusammen, dass die Leser mit einem Thema konfrontiert seien, das sie nur schwer der »reinen Literatur« zuordnen können.18 Für Littell ist die Frage, ob sein Buch im Sinne guter Literatur »funktioniert.« Das Problem des Verhältnisses zwischen historischer und literarischer Wahrheit nimmt er dabei durchaus wahr. Die Frage ist allerdings, ob es auf der Ebene des Buches eine Reflexion über das Problem der Darstellbarkeit gibt, darüber was es bedeutet, jenes historische Material in einem ästhetisch-intellektuellen Versuch zu benutzen. Littell hat mehrmals betont, das Problem hätte auch in einer anderen Zeit verhandelt werden können. Dann muss er sich fragen lassen: Warum der Nationalsozialismus und die Judenvernichtung? Dem Sog an Fragen, die das historische Material aufwirft, hat Littell durchaus nachgegeben. Nur hat er sie in einem Rahmen behandelt, der sich von seinem Material zu entfernen scheint. Doch wäre das historische Setting dem intellektuellen Ansinnen vollständig äußerlich, dann wäre unverständlich, warum der Rahmen so minutiös recherchiert und dargestellt wurde. Das »es« aus dem ersten Satz des Buches - »...lasst mich euch erzählen, wie es gewesen ist« - ist eben kein bloß auf eine literarische Welt hindeutendes »es.« Dass Littell trotzdem die Mühe auf sich nimmt, Fiktion und historische Zusammenhänge so komplex zu arrangieren deutet darauf hin, dass er einen Brückenschlag zwischen historischer und literarischer Wahrheit versucht. Es wäre aber zu fragen, was das eigentlich heißt: »literarische Wahrheit«. Wenn hier vor allem eine bestimmte Form gemeint ist, dann ist die Frage, woran diese sich als »wahr« erweist. Es mag auch zu viel verlangt sein, diese Antworten unmittelbar vom Roman selbst zu erhalten. Auch Celans »Todesfuge« beantwortet für sich gesehen noch gar nichts. Die große Frage nach dem angemessenen Verhältnis von historischem Inhalt und literarischer Form, das Problem der Darstellbarkeit der Shoa, schwebt bis zum Ende über der Lektüre des Buches.

 

ANMERKUNGEN:

1) Hier trifft die Kritik von Klaus Theweleit (Cf. Die Tageszeitung, 28.02.2008, online einzusehen unter http://www.taz.de/nc/1/archiv/digitaz/artikel/?ressort=tz&dig=2008%2F02%2F28%2Fa0170&src=GI&cHash=e12424991c).

2) Jonathan Littell, Die Wohlgesinnten, Berlin 2008. S. 39 [Weitere Seitenangaben im Text]

3) Eines der ersten Dokumente, welches auf einer fiktionalen Ebene auf die Konzentrationslager hinweist - ignoriert von der zeitgenössischen Kritik - sind die Kurzgeschichten des Resistancekämpfers Jean Marcel Bruller, der unter dem Pseudonym Vercors schrieb. (Vercors, Waffen der Nacht, Berlin 1949)

4) Frankfurter Allgemeine Zeitung, 03.11.2007, Nr. 256. S. 37.

5) Zumindest wenn man das Böse eher als mythische denn als religiös-konnotierte Kategorie liest. Religiöser Untertöne enthält sich Littell weitgehend.

6) Cf. Jürgen Alltweg, »Leute, jeder ist ein Deutscher«, in Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.09.2006, Nr. 211, S. 40.

7) Cf. Jonathan Littell, Die Wohlgesinnten - Marginalien, S. 28f.

8) Wo Littell diese Frage umtreibt, wirkt der Roman wie ein Kommentar zur in den 90er Jahren geführten Debatte zwischen Susanne Heim und Götz Aly auf der einen Seite, und Historikern wie Ulrich Herbert, Norbert Frei und Dan Diner auf der anderen. (Cf. Wolfgang Schneider (Hrsg.), ‚Vernichtungspolitik‘ - Eine Debatte über den Zusammenhang von Sozialpolitik und Genozid im nationalsozialistischen Deutschland, Hamburg 1991.)

9) Dieser Idealtyp kann natürlich keineswegs für die gesamte Leserschaft des Romans verallgemeinert werden, auch wenn die Mehrzahl der Rezensionen sich als solche inszenieren. Auch wenn die von Historiographie gesättigte Inhaltsebene nicht jedem aufgehen mag, so ist sie doch für die Anatomie des Romans als entscheidend herauszustellen.

10) Noch deutlicher wird das in dem kürzlich in Frankreich erschienenen Essay Littells über Leon Degrelle, einen belgischen Faschisten, der als eines der realhistorischen Vorbilder für Max Aue gilt. Theweleit steuerte zu dem Essay das Nachwort bei. (Cf. Jonathan Littell, Le Sec et l‘Humide, Paris 2008)

11) Letzteren, wie auch Maurice Blanchot, hat Jonathan Littell aus dem Französischen ins Englische übersetzt.

12) F.A.Z., 03.11.2007, Nr. 256, Seite 37.

13) Im Interview mit Pierre Nora bestätigt Littell, dass er die Figur in all ihrer Exzentrik »brauche, um die anderen klar hervortreten zu lassen.« (Jonathan Littell, Marginalien, S. 53.)

14) Loc. cit. Dem stehen Aussagen wie diese gegenüber wie »Ich bin aus dem Krieg wie ausgeleert zurückgekehrt, nur Bitterkeit und Scham waren geblieben, wie Sand der zwischen den Zähnen knirscht.« (22)

15) Cf. Florence Mercier-Leca »Die Wohlgesinnten und die griechische Tragödie«, in Marginalien, S.72-99.

16) Florence Mercier-Licas Fazit »Ist der passive Nazi Aue deswegen weniger schuldig? Die Interpretation ist offen. Das Grauen ist da. Punkt.« ist in diesem Zusammenhang reichlich vorsichtig. (Marginalien, S.81)

17) Cf. Marginalien, S. 38.

18) Loc. cit., S. 33.


Diese Rezension erschien erstmalig im Leipziger Cee Ieh No. 156 und wurde fürs Extrablatt erneut überarbeitet.



« Zurück