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Mai, 2019:
Ausgabe #10 ist erschienen

Tobias Ebbrecht

Die Liebe zum Bild

Nostalgie, Fetisch, Dialektik: Das Bild in der Erinnerungskultur


»Geschichte zerfällt in Bilder, nicht in Geschichten«, erklärt Walter Benjamin an zentraler Stelle seines Passagen-Werks.1 Im Verlauf meines Vortrages möchte ich mich mit einigen Überlegungen dem damit angesprochenen Verhältnis zwischen dem Bild und der Geschichte annähern. Dazu nehme ich den gegenwärtigen Hype um das Bild in der sogenannten Erinnerungskultur zum Ausgangspunkt, um dieses kritisch auf das Verhältnis der Deutschen zu ihrer Vergangenheit zu beziehen. Denn die kulturelle Inbesitznahme der Erinnerung verläuft in erster Linie visuell. Die Bilder bilden den Motor, das Erzählprinzip, oder wie es heute meist heißt das »Narrativ« von Geschichtserzählungen in Ausstellungen, an Gedenktagen, im Fernsehen, Film und in anderen kulturindustriellen Medien.

Diese Bilder werde ich im Folgenden als Geschichtsbilder bezeichnen. Darunter verstehe ich nachträgliche visuelle Vereindeutigungen von vergangenen Ereignissen. Ihr Modell findet sich in der Fotografie. Nach Siegfried Kracauer erfasst die Fotografie das Gegebene als ein räumliches und/oder zeitliches Kontinuum. Genauer gesagt, erscheint es so, als erfasse die Fotografie die äußere Welt in dieser Vollständigkeit. Denn es ist der Glaube an ihren Charakter als Abbild, durch den das fotografische Bild als Reproduktion angesehen und es aus dem geschichtlichen Verlauf herausgelöst wird. Die Fotografie als rein technischer Vorgang der Reproduktion macht hingegen erst einmal nichts anderes, als die Wiedergabe dessen, was vor der Linse der Kamera zu einem gegebenen Zeitpunkt erscheint. Darum geht es hier auch nicht um Fragen der Ursprünglichkeit oder des Anfangs, sondern um Fragen der Auswahl, der Begrenzung und der Einstellung. Das Geschichtsbild ist in erster Linie Ausdruck von Projektionen auf die Geschichte, die der Gegenwart entstammen und bestimmten gesellschaftlichen Vorstellungen, Ideologien und Wünschen entsprechen. Das Besondere daran ist aber, dass es genau diese Herkunft so weit wie möglich verleugnet.

Im Folgenden versuche ich einen Zugang zu entwickeln, um diese Verleugnung sichtbar zu machen. Dazu schlage ich vor, drei Facetten solcher Geschichtsbilder zu untersuchen. Meine erste These ist, dass es sich bei den Geschichtsbildern um narzisstische Bilder handelt. Meine zweite These ist, dass sie einem nostalgischen Bedürfnis entstammen und meine dritte These ist, dass das Bild in diesem Zusammenhang als Fetisch funktioniert - und dass dies nicht nur das konkret anschauliche Geschichtsbild, sondern auch das Nicht-Bild betrifft, das für die Erinnerungskultur zentrale Bedeutung hat.

Siegfried Kracauer hebt von der Fotografie die Gedächtnisbilder ab, die das Gegebene bewahren, »insofern es etwas meint.« 2 Sie scheren sich nicht um Daten, sie überspringen Jahre oder dehnen den zeitlichen Abstand. Sie beziehen weder die »totale Raumerscheinung noch den totalen zeitlichen Verlauf« der Geschichte ein.3 Ich möchte diese Gedächtnisbilder, auch um mich von der Sprache der Erinnerungskultur abzusetzen, Vorstellungsbilder nennen. Diese Vorstellungsbilder sind mentale Bilder. Ihre Charakteristika sind Porösität und Unvollständigkeit, die auf den permanenten Austausch zwischen dem Innen und dem Außen verweisen. Sie sind ebenfalls Projektionen - im wahrsten Sinne des Wortes - aber solche, die diese Tatsache nicht verschleiern können. Sie fordern geradezu nach Deutung, Übersetzung und Interpretation.

Diese Gegenüberstellung von Geschichtsbildern und Vorstellungsbildern soll mich am Ende meiner Ausführungen dann wieder zu Walter Benjamin und seiner Vorstellung des dialektischen Bildes zurückbringen. Vorweggenommen sei, dass Benjamins Bildbegriff sich keinesfalls in der Materialität des fotografischen Bildes erschöpft, sondern vielmehr und besonders als Denkbild oder in meiner Terminologie als Vorstellungsbild gedacht ist. Und dass genau dadurch erst der Blick auf das Nebensächliche, das Nichtsichtbare, das scheinbar Unbedeutende fällt, was aber erst dasjenige aufzuschließen ermöglicht, was gemeint ist. Und, dies sei auch noch betont, weil genau diese Denk- oder Vorstellungsbilder den Betrachtenden als Subjekt, als Deutenden, als Interpretierenden ansprechen und nicht als jemanden, dessen Bedürfnis nach dem Immergleichen, nach dem bereits Vorgeprägten, das Geschichtsbild zu erfüllen verspricht.

1. Das Geschichtsbild ist narzisstisch

Damit sind wir bereits bei meiner ersten These zum Charakter des Geschichtsbildes: Das Geschichtsbild ist narzisstisch. Was meint diese Annahme? Die die Erinnerungskultur strukturierenden Geschichtsbilder kennen kein Außen mehr. Sie verweisen vielmehr nur auf sich selber. Hier geht es nicht um die Frage ihres Ursprungs, sondern im Gegenteil um die des Kontextes. Es geht um das »in Beziehung setzen« des Bildes zu dem, was nicht in ihm selbst enthalten ist. Und was als Spur - nicht als Referenz - dennoch vorhanden ist, und dadurch das Versprechen der Fotografie auf Abgeschlossenheit negiert. Wie Kracauer es formuliert: »Unter der Photographie eines Menschen ist seine Geschichte wie unter einer Schneedecke vergraben.«4

Das erinnerungskulturelle Geschichtsbild, wie es die historischen Ausstellungen vom Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände in Nürnberg bis zur Gedenkstätte Sachsenhausen dominiert, wie es in ständiger Wiederholung in den Fernsehdokumentationen erscheint oder imitierend in den Filmen über den Nationalsozialismus nachgebildet und in die nationalen Erzählungen eingeordnet wird, ist zum Ikon geworden. Im Gegensatz zum symbolischen Bild fordert das ikonische Bild keine Interpretation. Es steht bereits als Bild für das, was es bedeutet. Bedeutung und Gegenstand fallen zusammen. In diesem Sinne fordert das ikonische Bild einen Erinnerungseffekt: So wie es gezeigt wird, war es auch, weil es so gezeigt wird, wie ich es schon immer gesehen habe, weil es immer so gezeigt wurde.

Das Symbol hingegen kennt noch das Außen, auf das es verweist, weil es eben nicht mit ihm identisch ist. Das symbolische Bild war ein Bild, das gerade deshalb etwas meinte, weil es nichts bedeutete. Die Bedeutung realisierte sich erst, indem es mit etwas in Beziehung gesetzt wurde, was es selbst nicht war und gerade dadurch die Spur zu diesem Anderen bewahrte. Doch gerade diesen Bedeutungskern eliminiert das ikonische Bild, das mit sich selbst identisch erscheint. In diesem Sinne ist das Geschichtsbild ein narzisstisches Bild. Und paradoxer Weise ist es gerade die Kritik an der Referentialität gewesen, der Bildersturm der Postmoderne, die zur Totalität des Bildes führte. Gerade durch die Auflösung der Beziehung zu seinem Außen, zu seinem Entstehungskontext, zum Zeitkern der Aufnahme, zum Subjekt, das das Bild herstellte, gerade als ein aus der Zeit heraus gelöstes Bild, wird das Geschichtsbild zum nur noch sich selbst bedeutenden, im wahrsten Sinne des Wortes »selbstreferentiellen« Bild. Und weil es auf diese Weise kein Außen mehr kennt und dabei gleichzeitig alles bedeuten soll, also die Geschichte in sich selbst fixiert und zum Stillstand bringt, ist das Geschichtsbild ein narzisstisches Bild. Es liebt nur sich selbst. Genauer gesagt: Unsere Liebe zum Geschichtsbild ist die Liebe zu den Bildern, die wir uns nach unseren eigenen Wünschen und Projektionen herstellen. Sie sind Ausdruck der Liebe zu jenen hergestellten und gemodelten Bildern, die wir uns von uns und unserer Geschichte wünschen. Sie sollen vereindeutigen und beglaubigen, was wir sehen wollen.

2. Das Geschichtsbild ist ein nostalgisches Bild

Das bringt mich zu meiner zweiten These. Denn in diesem Sinne ist das narzisstische Geschichtsbild auch immer ein Nostalgiebild. Es entspricht einem nostalgischen Bedürfnis. Und dieses nostalgische Bedürfnis ist ebenfalls Ausdruck des Wunsches, die Vergangenheit so anzuschauen, wie sie den retrospektiven Wünschen und Projektionen - und damit immer auch den Formen ihrer Überlieferung - entspricht.

Das nostalgische Bedürfnis soll die objektive Differenz zwischen Vergangenheit und Gegenwart nivellieren und verleugnet damit insbesondere in Deutschland auch den Schatten, der von der Vergangenheit auf die Gegenwart fällt. Die Hinwendung zum Alltag der Volksgenossinnen und Volksgenossen und ihrer Leiden ist dabei ein zentraler Bestandteil der nostalgischen Ästhetik. Auf einen anderen, ebenso wichtigen Bezug des nostalgischen Bedürfnisses hat Fredric Jameson hingewiesen. Er definiert die von ihm so bezeichnete »Nostalgie-Welle« als zentralen Bestandteil der Postmoderne. Und diese wiederum begreift er nicht als eine Stilrichtung, sondern vielmehr als eine »kulturelle Dominante«5, die sich meiner Einschätzung nach, und so möchte ich diesen Gedanken aufgreifen, auch in der gestiegenen Bedeutung der Geschichtsbilder in der deutschen Erinnerungskultur niederschlägt. Jameson setzt die Nostalgie, die sich in den kulturellen Unterhaltungsprodukten bemerkbar macht, in Zusammenhang mit einem »allgegenwärtigen, alles verschlingenden und geradezu libidinös besetzten Historismus.«6 Der Antrieb des Historismus, wie der am Geschichtsbild ausgerichteten Erinnerungskultur, besteht im Wunsch nach einer homogenen und kontinuierlichen Darstellung der Geschichte. Ihre Erzählform ist heute die der »'Generationen'-Geschichte«7, in der eben nicht die Formen des permanenten Umarbeitens, Tradierens und Übersetzens der historischen Erfahrung, sondern die Verleugnung dieser Verfahren im Zentrum stehen. Die Kulturproduzenten wie die Historiker wenden sich der Geschichte nur noch als einer »vollendeten Vergangenheit« zu. Sie vergegenwärtigen sie dabei als »Imitation toter Stile«, die in einem »imaginären Museum« lagern.8 Die Geschichte »ist mittlerweile zu einer unüberschaubaren Bildersammlung geworden«. Damit »wird die Vergangenheit als ‚Referent' schrittweise in Klammern gesetzt, bis sie schließlich ganz ausgelöscht ist und uns nur mehr ‚Texte' hinterläßt.«9

Noch einmal, um hier nicht missverstanden zu werden. Es geht nicht um eine Rückkehr zum Originalitätskonzept und nicht um die Suche nach einem Ursprung. Es geht darum, an jener zur Interpretation herausfordernden Spur festzuhalten, die in die Vergangenheit führt und von der aus die Umbildungen, Verzerrungen und Übersetzungen beleuchtet und analysiert werden können. Dieses Moment war im bürgerlichen Stilbegriff aufbewahrt, von dem aus Licht auf eine Epoche und ihre Verhältnisse fiel. Der Stilbegriff koppelte sich dabei stets an die emphatische Vorstellung vom Subjekt als einem Schöpferischen und Erkennenden. Die Kritik des Subjekts hat mit der Kritik seiner gesellschaftlichen Form auch diesen emanzipatorischen Bezug getilgt. An seine Stelle ist nicht das befreite Individuum, sondern ein auf Effekte reagierender Rezipient entstanden. Sein Brot ist nicht lediglich, wie es im Kapital zur Kulturindustrie heißt, der »Stein der Stereotypie«. Denn im Stereotyp ist in gewisser Weise auch immer die Erinnerung an seine Form und an seine Herkunft aus dem Produktionsprozess aufbewahrt. Das Stereotyp entleert sich vielmehr in der »Kunst der Imitate«10, einer »identische[n] Kopie von etwas, dessen Original nie existiert hat.«11 Genau diese Imitationskunst begründet die Intensivierung, die vom nostalgischen Geschichtsbild ausgeht. Denn der Erinnerungseffekt, der als Erinnerung einer eigenen Erfahrung erscheint, verdankt sich der Wiederholung des Bekannten. Sie ist ein »Bestandteil des ästhetischen Effekts.«12

Im Geschichtsbild, um das es mir hier als Form deutscher Erinnerungskultur geht, fällt dabei die nostalgische Imitation der Vergangenheit als Imitation historischer Stile zusätzlich zusammen mit der zentralen Behauptung von Authentizität. Obwohl insbesondere die Filme - Beispiele dafür wie »Der Untergang«, »Das Wunder von Bern« oder »Dresden« werden in den nächsten Tagen vielfältig diskutiert - ihre Künstlichkeit nur schwer verbergen, ist doch die Definität, mit der ihr vermeintlich ‚authentischer Charakter' immer wieder betont wird, besonders auffällig und bedeutsam. Dieser »Pseudorealismus« ist das genaue Gegenteil eines aus der bloßen Aufnahmefähigkeit der fotografischen Medien resultierenden »assoziativen Strom[s] der Bilder«, durch den ein »den Sehgewohnheiten des Publikum fremdes, diffuses, nach außen unartikuliertes Gebilde« entstünde, das »jeglichen Sinnzusammenhang an der Oberfläche auflösen und in den äußersten Gegensatz zum vertrauten Realismus geraten« würde, wie Adorno anmerkt.13 Vielmehr ist das sich authentisch gebende Geschichtsbild explizite Deutung, zumeist die bloße Imitation des historischen Faktes oder Bildes, das seine Bedeutung bereits selbst sein soll. Wie Adorno ausführt, liegt darin ein zentrales Problem. Denn durch das Bedeuten wird gerade der Konformismus bewirkt, wird nichts anderes dargestellt, als das was längst bekannt und gewünscht ist. Gleichzeitig wäre jener Konformismus aber nur dadurch zu brechen, dass das Bild auch tatsächlich etwas bedeutet und sich an etwas außerhalb seiner selbst richtet. Doch die Imitation verunmöglicht jede Intention: »in dem lückenlosen Gefüge der Verdopplung der Realität durch die technische Apparatur des Films wird jede Intention, und wäre es selbst die Wahrheit zur Lüge.«14

3. Das Geschichtsbild als Fetisch

Damit bin ich bei meiner dritten These über das Geschichtsbild angelangt. Das Geschichtsbild - und wie ich zeigen möchte auch und gerade das Nicht-Bild - fungieren als Fetisch. Wenn ich hier auf den Fetisch Bezug nehme, dann beziehe ich mich damit auf eine Definition, die Christoph Hesse in seiner Untersuchung über das Verhältnis zwischen »Filmform und Fetisch« aufgestellt hat: »Fetischistisch ist eine zur Norm verfestigte und dadurch abstrakt gewordene filmische Form, die mit entsprechenden Wahrnehmungsschemata auf seiten des Publikums korrespondiert.«15 Wie unschwer zu erkennen ist, korrespondiert diese Definition bereits mit einigen Merkmalen, die ich bereits als kennzeichnend für das Geschichtsbild hervorgehoben habe: eine verfestigte Form, die den gesellschaftlich tradierten Wünschen und Vorstellungen des Publikums entspricht.

Hesse entwickelt seine Definition in der Auseinandersetzung mit zwei verschiedenen Bezügen zum Fetisch. Der eine stammt von Freud und behandelt den Fetischismus im Zusammenhang mit der Kastrationsdrohung. Der fehlende Penis der Mutter soll ersetzt werden, indem ein anderer, äußerer Gegenstand dessen Funktion einnimmt. Auf diese Weise soll die Realität des Geschlechtsunterschiedes geleugnet werden. Außerdem soll so auch die Kastrationsdrohung gegen den Knaben selbst, dessen Penis durch sein Fehlen bei der Mutter selbst in Gefahr gerät, kompensiert werden. Der Fetischismus dient als Kompromiss zwischen Wunsch und Realität, indem der Wunsch auf ein reales Objekt übertragen und auf diese Weise integriert werden soll. In diesem Sinne konserviert auch das Geschichtsbild den Wunsch und gliedert ihn damit gleichzeitig in die reale Welt ein. Darum auch ist es so wichtig, dass das Geschichtsbild authentisch wirkt. Die Differenz zwischen Wunsch und Realität wird so eingeebnet, das Geschichtsbild erscheint als Abbild der Geschichte. Dies führt zu der zweiten Form des Fetischs, wie sie von Marx für die Warenform entwickelt wurde. Die Warenform erscheint im Tauschprozess nicht als gesellschaftliche Form, sondern als Naturtatsache. Auf diese Weise ist ein »bestimmtes, geschichtlich fixiertes soziales Verhältnis stets schon gesetzt.«16 In diesem Sinne erscheint das Geschichtsbild paradoxer Weise als ungeschichtlich. Als Imitation behauptet es die Wiedergabe einer historischen Realität, deren Herkunft aus den gesellschaftlich geformten Bedürfnisstrukturen verleugnet wird. Das Geschichtsbild spiegelt also in gewisser Weise die Geschichte nicht als Produkt gesellschaftlicher Verhältnisse, sondern als scheinbar außerhalb der Subjekte bestehende, quasi natürliche Erscheinung vor. Der mythische Charakter des Geschichtsbildes speist sich dabei aus seiner Form. Also beispielsweise der Form des Erzählgenres, als Melodram oder Tragödie, als Mythos oder von außen hereinbrechendes Schicksal.

Eine besondere Stellung in der deutschen Erinnerungskultur nimmt dabei das Nicht-Bild ein. Die Kategorie des Undarstellbaren ist ein zentraler Bestandteil unserer Vorstellung der deutschen Geschichte geworden. Dieses Undarstellbare wird dabei nicht mit Detlev Claussen als »beschreibbar Unbeschreibliches« begriffen, also als Herausforderung zur Auseinandersetzung und damit auch zur Beschreibung. Vielmehr ist das Bilderverbot, das über die Darstellung der deutschen Verbrechen verhängt ist, selbst zu einer Darstellungsform, eben zu einem Nicht-Bild geworden. In diesem Nicht-Bild soll das Unerträgliche der Vernichtung, das erschreckende und bedrohliche Wissen, dass in dieser Welt, in dieser Gesellschaft die Verbrechen geschahen, von denen die Bilder aus den Konzentrationslagern Zeugnis ablegen, kompensiert werden. Doch gerade indem die Verbrechen so zum Nicht-Bild werden, drohen sie auch zu verschwinden. Das Nicht-Bild selbst setzt sich an ihre Stelle. Als Fetisch verleugnet das Nicht-Bild die Bilder, die an das »beschreibbar Unbeschreibliche« gemahnen. In dieser Verleugnung wird auch die Spur getilgt, die in diesen Bildern zu ihrem Außen enthalten ist. Sie werden alle gleich gemacht, unabhängig von ihrem Entstehungskontext und den Intentionen jener, die die Bilder machten. Das Foto seiner Verbrechen, das der Wehrmachtssoldat als Trophäe nach Hause zu seinen Lieben schickt, wird identisch mit dem Foto, das der alliierte Kameramann nachträglich als Beweis der Verbrechen in den befreiten Konzentrationslagern macht. Das Bild, das die deutsche Propagandakompanie vom Vernichtungskrieg als deutschem Befreiungskampf herstellt, rückt an die gleiche Stelle wie das Foto der Verbrennung von Leichen, das ein Mitglied des Sonderkommandos von Auschwitz heimlich und unter Todesdrohung in der Tür einer Gaskammer stehend als Zeugnis für die Nachwelt aufgenommen hat. Dabei wäre es gerade die Interpretation dieser Bilder, durch die das, was sie zeigen in einen Zusammenhang mit dem gebracht werden kann, was sie nicht zeigen. Denn sie zeigen viel mehr, als das, was sie abbilden. Sie zeigen auch die Selbstwahrnehmung dessen, der das Foto macht, und die Situation dessen, der darauf abgebildet ist. Sie verweisen auch auf ein Außerhalb ihres Ausschnitts sowie auf die Umstände, unter denen es entstand.

4. Das dialektische Bild

Dies bringt uns nun zu der Frage nach dem Vorstellungsbild, also einem anderen Umgang mit dem Bild, das Geschichte nicht still stellt, sondern unter Bezugnahme auf das Nichtabgebildete vergegenwärtigt. Sie führt uns zurück zu der Frage, was es eigentlich bedeutet, wenn Siegfried Kraucauer schreibt, dass »unter der Photographie eines Menschen [...] seine Geschichte wie unter einer Schneedecke vergraben« liegt. Das bringt mich wieder zu Walter Benjamin und seinen Überlegungen zu einer Dialektik des Bildes.

Gegenstand von Benjamins Analyse der Geschichte ist der »Abfall der Geschichte«.17 Er schreibt: »Aber die Lumpen, den Abfall: die will ich nicht inventarisieren sondern sie auf die einzig mögliche Weise zu ihrem Rechte kommen lassen: sie verwenden.«18 Der materialistische Historiker wie ihn sich Benjamin vorstellt und welcher er selbst war, wendet sich also jenen Dingen zu, die aus dem scheinbar kontinuierlich fortschreitenden Prozess der Geschichtsschreibung ausgesondert wurden. Er klassifiziert sie nicht, ordnet sie also nicht als fehlende Stücke in das Gesamtbild ein, wie es die deutsche Alltagsgeschichtsschreibung macht, sondern er verwendet sie. Verwenden bedeutet für Benjamin, sie in Konstellationen zueinander bringen. Auf diese Weise stellen sich Beziehungen her, die einen neuen und anderen Blick auf die Gegenstände und durch sie auf die Geschichte ermöglichen. Dabei ist es kein Zufall, wenn Benjamin die Traumdeutung als die Aufgabe des Historikers bestimmt.19 Denn ihm geht es darum, all jenen Verschiebungs- und Übersetzungsprozessen nachzufolgen, die als Spuren und Schichten abgelagert enthalten sind, und die etwas über die Verhältnisse aussagen, in denen die Dinge entstanden und auf welche sie bezogen sind. Dies ist mit dem »Zeitkern« gemeint, der sich auch im Bild als versteckter Index findet. Und obwohl Benjamin nicht ausschließlich das materiell gewordene fotografische Bild meint, wenn er in seinen Ausführungen von Bildern spricht, so verweist er doch auf die Bedeutung der bildlichen Vorstellung für den Umgang mit der Geschichte. Denn das »Bild ist dasjenige, worin das Gewesene mit dem Jetzt blitzhaft zu einer Konstellation zusammentritt.« Weder können das Gewesene und die Gegenwart strikt voneinander getrennt werden, wie es der Historismus versucht, noch sollen Vergangenes und Jetzt im nostalgischen Erinnerungseffekt verschmelzen, während dabei gleichzeitig ihr Gegenwartsbezug verschleiert wird. Vielmehr ist das Bild »Dialektik im Stillstand«. Nicht herausgelöst, also abgetrennt von der Geschichte und ihrem Kontext, sondern als Einzelnes, als Monade, eine Möglichkeit zum Verweilen, beobachten und interpretieren. Nichts anderes meint der Begriff des Eingedenkens. In diesem Sinne ist das Bild für Benjamin ein dialektisches: »Denn während die Beziehung der Gegenwart zur Vergangenheit eine rein zeitliche ist, ist die des Gewesenen zum Jetzt eine dialektische: nicht zeitlicher, sondern bildlicher Natur. Nur dialektische Bilder sind echt geschichtliche, d.h. nicht archaische Bilder.«20 Indem die Bilder in andere unvorhergesehene Beziehungen miteinander gebracht werden - nicht zufällig an das Prinzip der Montage beim Film erinnernd - indem sie also bildliche Vorstellungsbilder werden, können sie das Prinzip der kontinuierlichen Zeit hintergehen und ein anderes Verhältnis zwischen dem Vergangenen und dem Gegenwärtigen herstellen, das Vorraussetzung historisch-kritischer Erkenntnis wäre. Dies ermöglichte im Verfahren kritischer Analyse eben jenen Panzer des Archaischen zu durchbrechen, der dem fixierten Geschichtsbild eigen ist. Auf diese Weise vollzieht sich die Bedeutungsbildung gleichzeitig jenseits der manifesten Intention und innerhalb des Bildes, denn »[d]ialektische Bilder sind Konstellationen zwischen entfremdeten Dingen und eingehender Bedeutung«.21 Sie halten eine Indifferenz fest, an der sich ihre Bedeutung erst entwickeln kann. In diesem Sinne entspricht dieses Verfahren einer Art Gegenanalyse. Nicht dem Dargestellten gilt die Aufmerksamkeit, nicht dem Eindruck der bloßen Widerspiegelung, sondern dem, was in der Indifferenz deutlich wird. Denn wie die Fehlleistungen verweisen diese Indifferenzen auf einen verborgenen Inhalt. Sie markieren Stellen, an denen das abschließende und endgültige Bedeuten nicht funktioniert, an denen die Bilder etwas über die Wahrheit ihrer Herstellung verraten. Hier kann die Analyse ansetzen und die Prozesse der Verschiebung und Übersetzung nachzeichnen und diesen nachgehen.

Wie in der Psychoanalyse fordert dies ein Verfahren der Konstruktion. Denn wie Benjamin anmerkt: »Die ‚Rekonstruktion' in der Einfühlung ist einschichtig. Die ‚Konstruktion' setzt die ‚Destruktion' voraus.«22 Solche Rekonstruktion in der Einfühlung vollziehen aber die Geschichtsbilder der Erinnerungskultur. Sie eliminieren die Differenzen und abstrahieren von der Erfahrung. Erfahrung wird durch Effekte ersetzt. Rekons-
truktion bedeutet imitierende Nachbildung. Die Gegenanalyse setzt gerade bei den Formen, Schemata und Fixierungen an und versucht diese offen zulegen, indem sie die Struktur der Form als Prinzip sichtbar macht. Daran schließt die Kons-
truktion an. Freud hat diese Bedeutung der Kons-
truktionen in der Analyse ebenfalls hervorgehoben und wie Benjamin ruft er dabei den Vergleich mit dem Archäologen auf: »Aber wie der Archäologe aus stehengebliebenen Mauerresten die Wandlungen des Gebäudes aufbaut, aus Vertiefungen im Boden die Anzahl und Stellung von Säulen bestimmt, aus den im Schutt gefundenen Resten die einstigen Wandverzierungen und Wandgemälde wiederherstellt, genauso geht der Analytiker vor, wenn er seine Schlüsse aus Erinnerungsbrocken, Assoziationen und aktiven Äußerungen des Analysierten zieht.«23

In diesem Sinne meidet die Gegenanalyse das Definitive und Geprägte des Geschichtsbildes. Gleichzeitig ist es gerade dieser fixierte Charakter, der das Geschichtsbild als solches analysierbar machen kann, indem seine Indifferenzen und Fehlleistungen aufgedeckt und beschrieben werden. Andererseits hält die Gegenanalyse im Sinne von Benjamins materialistischer Geschichtsdarstellung an der Bedeutung fest. Wie die Psychoanalyse bleibt sie ein Verfahren der Interpretation und verweigert sich somit der Tendenz in der Erinnerungskultur, Bedeutung und Kritik in der Fragmentarisierung von Geschichte zum Verschwinden zu bringen.

In diesem Sinne möchte ich meine Überlegungen abschließend und für die kommenden Tage auffordernd etwas festhalten, was Walter Benjamin als Stoßrichtung der materialistischen Geschichtsdarstellung fordert. Diese und auch die Gegenanalyse der Geschichtskultur und ihrer Bilder sollte die Vergangenheit dazu führen, »die Gegenwart in eine kritische Lage zu bringen.«24



ANMERKUNGEN:

1) Benjamin, Passagen-Werk, S. 596.

2) Kracauer, Photographie, S. 25.

3) Kracauer, Photographie, S. 24.

4) Kracauer, Photographie, S. 26.

5) Jameson, Postmoderne, S. 48.

6) Jameson, Postmoderne, S. 64.

7) Jameson, Postmoderne, S. 64.

8) Jameson, Postmoderne, S. 62.

9) Jameson, Postmoderne, S. 63.

10) Jameson, Postmoderne, S. 61.

11) Jameson, Postmoderne, S. 63.

12) Jameson, Postmoderne, S. 65.

13) Adorno, Minima Moralia, S. 161.

14) Adorno, Minima Moralia, S. 161.

15) Hesse, Filmform und Fetisch, S. 206.

16) Hesse, Filmform und Fetisch, S. 208.

17) Benjamin, Passagen-Werk, S. 575.

18) Benjamin, Passagen-Werk, S. 574.

19) Benjamin, Passagen-Werk, S. 580.

20) Benjamin, Passagen-Werk, S. 578.

21) Benjamin, Passagen-Werk, S. 582.

22) Benjamin, Passagen-Werk, S. 587.

23) Freud, Konstruktionen in der Analyse, S. 397.

24) Benjamin: Passagen-Werk, S. 588.

Als Vortrag gehalten auf dem im Mai 2008 in Bremen stattgefundenen Kongress »Deutschlandwunder - Wunsch und Wahn in der postnazistischen Kultur« - nähere Infos unter www.kittkritik.net


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