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Mai, 2019:
Ausgabe #10 ist erschienen

Sonja Witte

»Am Punkt, wo die Psychologie abdankt …«:
Freuds Rätsel der Massenbildung


Wir möchten den 3. Oktober in diesem Jahr zu einem Tag der Standort- und Kursbestimmung machen und fragen: Wie steht es um die Deutsche Einheit? Allerdings interessieren uns hierbei nicht Wirtschaftsdaten oder politische Analysen. Vielmehr möchten wir sozusagen die »gefühlte Deutsche Einheit« unter die Lupe nehmen. Denn es verhält sich, denke ich, wie mit der Temperatur: Nicht die Zahlen entscheiden, sondern das Empfinden der Menschen. Also: Haben wir so etwas wie ein Nationalgefühl, empfinden wir gar Stolz auf unser Land? Was verbindet uns Deutsche miteinander? Dabei fallen mir sofort die Bilder der Fußball-WM 2006 ein, als wir mit weltoffenem, fröhlichem Patriotismus unser Land gefeiert haben. Stolz können wir auch auf unsere Kultur sein. Sie bildet unsere Wurzeln. Unsere gemeinsame Kultur und ihr Erleben machen Spaß und verbinden uns, egal wie alt wir sind oder aus welchem Bundesland wir kommen.

Grußwort von Ole von Beust zum Programm der diesjährigen Einheitsfeierlichkeiten in Hamburg1


Im Folgenden wird der Aufforderung  Ole von Beusts nachgekommen, die ‚gefühlte Einheit unter die Lupe' zu nehmen, dem ‚Empfinden der Menschen' in der Masse nachzugehen - allerdings nicht auf dem Gebiet der Meteorologie, sondern mit Freuds Theorie der Massenbildung ... bis »zum Punkt, an dem die Psychologie abdankt« (Adorno) und wo Beusts Auffassung, Wirtschaftsdaten und politische Analysen hätten mit ‚fröhlichem Patriotismus' nichts zu tun, Unrecht gegeben werden kann: entscheidend ist letztlich im Kapitalismus schon gar nicht die Temperatur und weniger die subjektive Triebstruktur allein, sondern der gesellschaftliche Zwangszusammenhang. Wie sich dieser als Identifizierung mit einem Kollektiv im Triebschicksal des Einzelnen durchsetzt wird im Folgenden anhand der Schrift »Massenpsychologie und Ich-Analyse«2 von Freud in einer psychoanalytischen Reflexion des Verhältnisses von Individuum und Masse (zunächst implizit) entwickelt. Freud verhandelt in seiner Schrift die Wirkung, die eine Massenbildung auf den Einzelnen hat und das Verhältnis des Massenmitglieds zum Führer. Für Freuds Ausführungen ist es nicht von Belang, ob der Platz des Führers von einer klassischen Führerfigur eingenommen wird, oder ob nicht »[...] der Führer [...] durch eine Idee, ein Abstraktum ersetzt sein kann [...]«.3 Kann die Nation ein solches einigendes Abstraktum darstellen, wird gleichwohl im Folgenden von ihr kaum mehr explizit die Rede sein, sondern von dem, was der Ernennung der Nation als kollektivem Objekt der Deutschlandfans und ihrem Spaß daran an libidinöser Dynamik zugrunde liegt.

Im Weiteren möchte ich eine Konstellation von aufklärerischem und mythologischem Denken in der Freudschen Schrift verfolgen, ausgehend vom Gedanken Adornos, dass sich in der Freudschen Theorie »etwas sehr Merkwürdiges«4  zeigt: Die Psychoanalyse folgt als therapeutische Disziplin dem Impetus, das Ich durch das reflexive Zurückgehen auf das Unbewusste von diesem zu emanzipieren. Je tiefer man aber durch ‚Abgraben' an das Unbewusste gelangt, desto mehr zeige sich, dass »dieses Unbewußte  [...] undifferenziert, geschichtslos und zwischen den einzelnen Individuen eigentlich gar nicht so recht verschieden sei; [Freud] ist schließlich dazu gekommen, jenes Unbewußte gehöre, je mehr wir von seiner Oberfläche abbauen, desto weniger unserem individuellen Dasein, sondern sei mehr phylogenetischen als ontogenetischen Wesens.«5 Während Jung daraus die Theorie eines kollektiven Unbewussten ableite, erhalte sich bei Freud gerade in der Theorie der phylogenetischen Erbschaft »das dialektische Verhältnis zwischen dem Individuationsprinzip und jener psychischen Allgemeinheit«6.

Das Verhältnis von Ontogenese und Phylogenese in »Massenpsychologie und Ich-Analyse« werde ich anhand von zwei Vaterfiguren entwickeln: dem ödipalen Vater (Teil I) und dem Urvater (Teil II). Daran schließt sich in Teil III ein Versuch an, das mit diesen beiden Vaterfiguren verbundene Verhältnis von Onto- und Phylogenese zu skizzieren und an den Erfahrungsbegriff von Adorno anzudocken. Das Rätsel der Masse bei Freud besteht nicht zuletzt in der Frage, was die Psychoanalyse aus der Perspektive des Subjekts über dessen Ende in der Masse zu sagen hat.

I

Im Zentrum der Freudschen Schrift steht der Begriff der Suggestion - in ihr besteht für Freud das Rätsel der Masse und er fragt »im Geiste echter Aufklärung, was die Massen zu Massen macht«7. In Abgrenzung zu zeitgenössischen Autoren der Sozial- und Massenpsychologie unternimmt Freud »den Versuch [...], zur Aufklärung der Massenpsychologie den Begriff der Libido zu verwenden [...]. Wir werden also mit der Voraussetzung beginnen, dass Liebesbeziehungen [...] das Wesen der Massenseele ausmachen. Erinnern wir uns daran, dass von solchen bei den Autoren nicht die Rede ist. Was ihnen entsprechen würde ist hinter dem Schirm, der spanischen Wand der Suggestion verborgen [...]«.8

Das Erleben in der Masse ist dem präödipalen, infantilen Seelenleben analog. In der Masse verschiebt sich beim Massenmitglied die narzisstische Besetzung des Ichs auf das Kollektiv. Treten »in der Masse Einschränkungen der narzisstischen Eigenliebe «9 auf, so ermöglicht die Masse gerade auf Grundlage der  »neuartigen libidinösen Bindungen«10, die das Subjekt in ihr eingeht, eine Reinszenierung präödipaler Allmachtsphantasien. Die Masse »hat das Gefühl der Allmacht, für das Individuum in der Masse verschwindet der Begriff des Unmöglichen«.11

Zu Beginn des Seelenlebens bestimmt der primäre Narzissmus das Erleben der inneren und äußeren Realität als halluzinatorische Wunscherfüllung. In dieser Welt steht die Wahrnehmung der Differenz von Innen und Außen unter der Ägide des Lustprinzips: alles Gute wird verschlungen, alles Schlechte ausgespuckt, das Außen bedeutet das Schlechte, das Gute das Innen. Dieses Erleben erlaubt nur die Konkretion: Mangel, Versagung, Schmerz werden unmittelbar als Anwesenheit eines bösen Objekts erlebt, was ausgespieen werden kann - einverleibt wird sich die Wahrnehmung von Versorgung, Schutz, Wohlbefinden.

»Die Beziehung zum Objekt hat hier die Gestalt der projektiven Identifizierung; in ihr gibt es kein Konzept der Abwesenheit: Wenn die Verbindung mit dem guten Objekt nicht da ist, wird ein Angriff durch das böse Objekt erlebt. Es ist nicht möglich, sich nach der abwesenden Mutter zu sehnen; erlebt wird die anwesende Katastrophe.«12 In dieser primärnarzisstischen Erlebenswelt können innere Triebregungen und äußere Einflüsse noch nicht voneinander differenziert werden, ihre Herkunft nicht lokalisiert werden - der Gegensatz von Lust und Unlust ist die einzige Differenz, die der Säugling kennt. Demnach erfährt er auch die ersten äußeren Objekte, wie z.B. die Mutter, insofern sie ihm Lust bereitet, als ungetrennt vom eigenen Körper, während unlustverursachende Sensationen in der Phantasie als äußere Eindringlinge wahrgenommen werden: Alles Gute ist ein Teil des primärnarzisstischen Ichs, alles Schlechte kommt von außen.

Verliert die Herrschaft des Lustprinzips mit der Einführung des Realitätsprinzips seine unmittelbare Gewalt über die Wahrnehmung, kann das Eigene und das Nicht-Eigene differenziert werden, unabhängig davon, ob es als gut oder schlecht empfunden wird.

Zwei Prinzipien werden damit im Subjekt verankert: Das Prinzip der Abwesenheit und das Prinzip der Zeitlichkeit:

Indem die unmittelbare Kopplung von Außen=Böses und Innen=Gutes aufgegeben wird, besteht auch die Möglichkeit, dass die Abwesenheit eines guten Objekts erkannt und nicht als Anwesenheit eines bösen Objekts verkannt wird: Wenn das gute Objekt weg ist, war es vorher da und kann in Zukunft wiederkommen. Damit können sowohl die Objekte als auch das eigene Ich als ambivalent erlebt werden: auch ein gutes Objekt vermag nun abwesend - ohne als böses, unlustverursachendes anwesend - zu sein, Mangel bedeutet nicht zwangsläufig die Vernichtung des eigenen Ichs.

Die Realität - an der die eigene Wahrnehmung der Differenz von Innen und Außen, Subjekt und Objekt zu messen das Kind verpflichtet wird - wirkt als Kerbe, die sich in das Ich schlägt.

Angeregt »von dem durch die Stimme vermittelten kritischen Einfluß der Eltern«13 wird dem Ich im Spiegel der elterlichen Objekte seine eigene Macht aufgekündigt und gleichzeitig verspricht die elterliche Gestalt als Ideal die eigene, glorreiche Zukunft: Wenn ich erst einmal groß bin ...

Dann folgt schließlich die ödipale Katastrophe. Der Vater des Kindes tritt als Konkurrent, als dritter im Bunde zwischen die Mutter und das Kind. Nachträglich werden jetzt die im Subjekt bereits verankerten Prinzipien von Abwesenheit und Zeitlichkeit mit Bedeutung von Generationen- und Geschlechterdifferenz verknüpft und zueinander ins Verhältnis gesetzt: Das Prinzip der Abwesenheit verbindet sich mit einer eindeutigen Geschlechtszuweisung (es gibt Menschen mit und ohne Phallus) und mit der Bedeutung von Generationendifferenz (ich bin klein, du aber bist groß). Der kleine Knaben realisiert, dass sich das sexuelle Begehren der Mutter nicht auf ihn allein, sondern auch auf den Vater und seinen Phallus richtet, und das Begehren des Vaters wiederum auf die Mutter. Der Ausgang des ödipalen Konfliktes setzt den Vater als Sieger ein: Der Sieger hat den Phallus, den die Mutter begehrt, der Sohn soll sich zwar heterosexuell identifizieren, zugleich aber auch die generative Differenz zwischen Vater und Sohn akzeptieren: der Vater verkörpert die Potenz, die der Sohn nicht hat - zumindest noch nicht. Stellt der Vater während des ödipalen Konfliktes eine äußere Instanz dar, der dem Jungen als Dieb des mütterlichen Begehrens erscheint, besteht der Ausgang des ödipalen Konfliktes bekanntlich in der Verinnerlichung der väterlichen Position. Der Sohn identifiziert sich mit dem Vater und verinnerlicht ihn als Instanz, in Form des Über-Ichs. Damit errichtet sich das von den Eltern wirksam gemachte Inzestverbot mit Ausgang des ödipalen Konfliktes im Inneren des Kindes. Die Folge der Verdrängung ist Triebverzicht und zugleich unbewusstes Weiterwirken des inzestuösen Begehrens. Das Über-Ich weist das Ich zur Verdrängung an: Du darfst nicht wie der Vater sein. Diesem Verbot steht zugleich ein Gebot zur Seite: Du sollst wie der Vater sein. Die Verinnerlichung des Verbotes führt zur Verdrängung des infantilen Wunsches, mit der Mutter zu verschmelzen. Dieser Wunsch erhält sich als verdrängter im Unbewussten und der Vater nimmt phantasmatisch die Stelle desjenigen ein, dem als Einziger die Erfüllung dieses Wunsches gestattet ist.

Die Gestalt des Vaters als innere Instanz hat also einen doppelten Charakter: Derjenige, der das Verbot ausspricht ist der, für den das Verbot nicht gilt - diese Kippfigur findet sich in den Funktionen von Über-Ich und Ichideal. Insofern der Vater als Verkörperung des Ideals fungiert, treibt der Wunsch eine Identität von Ich und Ichideal herzustellen das Subjekt an.

Dieser unbewusste Wunsch wirkt als libidinöser Motor des Subjekts: In einer  phantasmatischen Verschmelzung möchte der Platz eingenommen werden, der vom Vater besetzt ist - dieser Platz ist aber mit der Einsetzung des ödipalen Gesetzes verbotenes Terrain.

 »Der Mensch hat sich [...] unfähig erwiesen, auf die einmal genossene Befriedigung zu verzichten. Er [...] sucht sie in der neuen Form des Ich-
ideals wieder zu gewinnen. Was er als sein Ideal vor sich hin projiziert, ist der Ersatz für den verlorenen Narzissmus seiner Kindheit, in der er sein eigenes Ideal war.«14 Als Ichideal prozessiert die verlorene Allmacht vor dem Ich und erhält dem Subjekt die Möglichkeit, ein narzisstisch besetztes Bild des eigenen Ichs aufrecht zu erhalten und so die ödipale Kränkung: Ich bin nicht das Ein und Alles meiner Mutter, zu lindern. Das Nein des Vaters zwingt dazu, diesen Wunsch nicht direkt, sondern über Umwege, über andere Objekte als die Mutter zu erfüllen.

Die Psychoanalyse Freuds bestimmt das Weiterwirken dieses verdrängten primärnarzisstischen Wunsches als Motor der Massenbildung. In der Masse vollzieht sich eine Regression, in der das Subjekt sich des - mit dem Ende des ödipalen Konfliktes errichteten - inneren Konfliktes zwischen Es, Ich und Ideal, zwischen Triebregung und Triebverzicht auf eine spezifische Weise entledigt. In der Masse wird ein kollektives Objekt, der Führer, an die Stelle des Ichideals gesetzt, während die Massenmitglieder sich untereinander in ihrem Ich miteinander identifizieren. Der Führer wird zum narzisstischen Objekt aller Massenmitglieder, die sich in ihrem Ich auf Grundlage dieser Gemeinsamkeit miteinander identifizieren. Der Unterschied zwischen Ichidealersetzung und Identifizierung an dieser Stelle ist entscheidend: Die Ichidealersetzung ist Resultat einer Idealisierung - ein Moment auch der Verliebtheit: zuungunsten des Ichs wird die libidinöse Besetzung vom eigenen Ich abgezogen und auf das Objekt als Ersatz des Ichideals verschoben. Die Identifizierung hingegen, das, was die Massenmitglieder untereinander bindet, ist ein entgegensetzter Vorgang: Das Objekt der Identifizierung erhält sich nicht als eigenständiges, ersetzt nichts, sondern im Gegenteil: das Objekt wird dem Ich einverleibt, das Objekt richtet sich im Ich auf, und das Ich nimmt nach dem Vorbild des Objekts dessen Eigenschaften in sich auf. Die Freudsche Formulierung der Wechselseitigkeit von Idealisierung des Führers und Identifizierung der Massenmitglieder untereinander benennt den Punkt präzise, in dem sich die Massenmitglieder untereinander identifizieren: ein jeder nimmt von einem jeden die Idealisierung des Führers in sich auf. Die Angleichung der Massenmitglieder untereinander ist damit als Resultat der Identifizierung - als Gleiche unter Gleichen gemeinsam dem Führer unterworfene zu sein - charakterisiert. Das bedeutet: die im Identifizierungsakt enthaltene Möglichkeit der Bereicherung des Ichs kehrt sich in der Masse in ihr Gegenteil. Der Identifizierungsprozess führt nicht zur Hereinnahme ichfremder Anteile sondern führt faktisch zur Entleerung des eigenen Ichs: man identifiziert sich insofern mit anderen in der Masse, als dass sie nichts mehr sind als man selbst - bloße Masse. In der Masse tritt qua Ersetzung des Ichideals durch ein äußeres Objekt eine Aufhebung der inneren Spannung zwischen Ichideal und Ich ein. Die primärnarzisstische Wunscherfüllung erfüllt sich in der Masse auf direktem Wege - die Regulierung der Triebe besorgt nicht länger der innere Konflikt, sondern die Anpassung an das extrojizierte Ideal. Der erste Vater der »Massenpsychologie und Ich-Analyse« ist vertrieben. Anstelle seiner verinnerlichten Autorität in Form des Ichideals tritt ein äußeres Objekt, das kollektive Ichideal, der Führer. »Eine [...] Masse ist eine Anzahl von Individuen, die ein und dasselbe Objekt an die Stelle ihres Ichideals gesetzt und sich infolgedessen in ihrem Ich miteinander identifiziert haben.«15

II

Aber: »Wir werden uns nur kurze Zeit der Illusion freuen, durch diese Formel das Rätsel der Masse gelöst zu haben. [...] [D]ie Urhorde soll uns auch das noch Unverstandene, Geheimnisvolle an der Massenbildung näher bringen[...].«16  Dass das durch die Identifizierung mit dem eigenen Vater gebildete Ideal auf ein äußeres Objekt, das kollektive Ich-Ideal, verschoben wird, reicht Freud zur Erklärung der Massenbildung nicht aus. Dem ersten, dem Vater der eigenen Kindheit tritt der Vater der menschlichen Vorzeit, der Urvater, bei der Lösung des Rätsels der Suggestion zur Seite. Die Analyse der Massenbildung als Versuch die Glorifizierung des Führers auf die Wiederkehr eines unbewussten infantilen Wunsches zurückzuführen verbindet sich mit seinem Mythos des Urvaters und der Bruderhorde. Der Urvater stellt in der Freudschen Psychoanalyse einen wissenschaftlichen Mythos dar, in dem der Ursprung der menschlichen Kultur in der Ermordung eines Stammesoberhauptes durch die männlichen Stammesmitglieder, die Bruderhorde, verortet wird. Damit befindet man sich auf der Ebene der Phylogenese, der Gattungsgeschichte des Menschen, die in der Massenpsychologie in eine spezifische Konstellation mit der Ontogenese, der Geschichte des einzelnen Subjekts, tritt. Freuds Geschichte des Urvaters ist empirisch nicht begründbar und schon zu Freuds Zeiten von Ethnologen widerlegt worden  - Freud selbst wusste das, trotzdem glaubte er an seine Konstruktion, hielt an ihr fest. »Es ist dies zwar nur eine Hypothese wie so viele andere, mit denen die Prähistoriker das Dunkel der Urzeit aufzuhellen versuchen - eine ‚just so story' nannte sie witzig ein nicht unliebenswürdiger englischer Kritiker - aber ich meine, es ist ehrenvoll für eine solche Hypothese, wenn sie sich geeignet zeigt, Zusammenhang und Verständnis auf immer neuen Gebieten zu schaffen.«17

Um den unheimlichen Charakter des Glaubens an das kollektive Ideal und den masochistischen Charakter der Unterwerfung der Massenmitglieder zu erklären, greift Freud auf den Urvater-Mythos zurück: In der Vorgeschichte menschlicher Kultur, so heißt es, herrschte ein grausamer Tyrann über die Urhorde. Ihm war als einzigem sexueller Verkehr mit den Weibchen des Clans gestattet, er war als einziger zu intellektueller Leistung fähig, »[...] er liebte niemanden außer sich selbst, und die anderen nur, insofern sie seinen Bedürfnissen dienten. Sein Ich gab nichts Überschüssiges an die Objekte ab[...]«18 Ein absolut grausamer, wolllüstiger, alles Genießen okkupierender Wüstling, ein obszöner jouisseur. Der Urvater ist das Bild des absoluten Narzissten, dessen Genießen keine Grenze hat: Er - so behauptet Freud -  »[...] ist das Massenideal, das an Stelle des Ichideals das Ich beherrscht [...]«.

Die Geschichte von Urvater und Urhorde steht als Erklärung des Ursprungs menschlicher Kultur in Analogie zur ontogenetischen Subjektkonstituierung: Die Brüder der Urhorde schließen sich zusammen und töten den Urvater, um anstelle von ihm in den Genuss der Frauen der Urhorde zu kommen. Nach dem Mord verzehren die Brüder den Urvater gemeinsam, doch die Reue bringt sie dazu, den Platz des Vaters nicht umstandslos einzunehmen, sondern im Gegenteil auf ihre ‚Beute', die Frauen, zu verzichten und stattdessen außerhalb des Clans ihr Glück zu versuchen und zukünftig auf Mord- und Totschlag zu verzichten. Die Verinnerlichung, in Form des Verzehrs des toten Urvaters, führt zum kulturstiftenden Gesellschaftsvertrag. Der Beginn der menschlichen Kultur gründet nach Freud im Verbrechen, das verdrängt wird. Im Inneren richtet sich der Urvater auf und mahnt fortan zum Triebverzicht. 

Der Gang der Menschheitsgeschichte ist nach Freud eine Geschichte der väterlichen Wiederkehr und - das ist wichtig - seiner Umwandlung. Es ist ja nicht tatsächlich der gemordete Urvater, der aufersteht und wiederkommt - er kommt wieder in umgewandelter Gestalt: als Gott, Totem oder eben als Führer der Masse. Als Verdrängter kehrt der Urvater wieder. Fortan - individuell wie kollektiv - wird der Trieb in kulturelle Bahnen gelenkt: Dichten, Denken, Malen, Arbeiten ...

»Wir entschließen uns endlich zur Annahme, dass die psychischen Niederschläge jener Urzeit Erbgut geworden waren, in jeder neuen Generation nur der Erweckung, nicht der Erwerbung bedürftig.«19

Verkörpern Masse und Führer in entstellter Form Vater und Urhorde, so will Freud an ihrer gegenwärtigen Gestalt das Archaische, Vererbte erkennen. »Die menschlichen Massen zeigen uns [...] das vertraute Bild des überstarken Einzelnen inmitten einer Schar von gleichen Genossen, das auch in unserer Vorstellung von der Urhorde enthalten ist. Die Psychologie dieser Masse, wie wir sie aus den oft erwähnten Beschreibungen kennen, - der Schwund der bewussten Einzelpersönlichkeit, die Orientierung von Gedanken und Gefühlen nach gleichen Richtungen, die Vorherrschaft der Affektivität und des unbewussten Seelischen, die Tendenz zur unverzüglichen Ausführung auftauchender Absichten, - das alles entspricht einem Zustand von Regression zu einer primären Seelentätigkeit, wie man sie gerade der Urhorde zuschreiben möchte. Die Masse erscheint uns wie ein Wiederaufleben der Urhorde. [...] Der unheimliche, zwanghafte Charakter der Massenbildung, der sich in ihren Suggestionserscheinungen zeigt, kann also wohl mit Recht auf ihre Abkunft von der Urhorde zurückgeführt werden. [...] Der Urvater ist das Massenideal, das anstelle des Ichideals das Ich beherrscht.«20

III

Im Weiteren möchte ich den Freudschen Urvater-Mythos ernstnehmen und darüber nachdenken, inwiefern er vielleicht gerade als irrationales Konstrukt, als Spleen Freuds, in seiner Struktur als ein kritisches Moment der Psychoanalyse zu verstehen ist.

Wenn man sich die Beschreibung des Urvaters anschaut, fällt zunächst auf, dass er ähnlich charakterisiert ist wie der im ersten Teil beschriebene Säugling: Der Urvater ist absoluter Narzisst, er gibt, wie Freud schreibt, nichts ‚Überschüssiges' an seine Objekte ab, d.h. alle libidinöse Triebregung ist auf sein eigenes Ich gerichtet, er liebt andere nur, insofern sie seine Bedürfnisse befriedigen (vgl.o.) - gleich Freuds ‚majesty, the baby'. Und in der Tat betont Freud: »Die Individualpsychologie muss vielmehr ebenso alt sein wie die Massenpsychologie, denn von Anfang an gab es zweierlei Psychologien, die der Massenindividuen und die des Vaters, Oberhauptes, Führers.«21 Auf den ersten Blick scheint es, als projiziere Freud den Zustand zu Beginn des Seelenlebens auf die mythische Figur des Urvaters zurück. Der Mord der Bruderhorde wäre dann eine Rückprojektion des phantasmatischen Mordes am Vater im ödipalen Konflikt. Das Auffressen des Urvaters und das darauffolgende Tötungstabu würden die Verinnerlichung des Vaters als Über-Ich als Ausgang des ödipalen Konfliktes darstellen. Der phylogenetische Mythos würde in dieser Interpretation als Metapher für die Ontogenese verstanden werden.

Das, was Freud im Außen verortet - die reale Tat des Mordes - würde ins Innere verlagert - in den Tötungswunsch des Kindes gegenüber dem väterlichen Konkurrenten. Die Vergangenheit, Urzeit der Menschheit, würde in die Gegenwart umgelegt und der kollektive als individueller Prozess erscheinen. Damit hätte man das Problem, dass es sich hier bloß um einen Mythos handelt jenseits aller empirischer Triftigkeit, gelöst und sich der biologistischen Begründung seines Weiterwirkens qua Vererbung entledigt.  Es stellt sich aber die Frage: Was verliert man dabei unterwegs? Vielleicht - in Claussens Worten - »Pech - der vermeintliche Ballast war die Ladung [...]«.22

Was wäre die Konsequenz daraus, die Massenpsychologie ohne den Urvater zu lesen? Es hieße, die Massenbildung auf eine individuelle infantile, regressive Wunscherfüllung zu reduzieren. Die phantasmatische Auflösung der Spannung zwischen Es, Ich und Ichideal hat in der Masse ohne Zweifel statt23 und damit auch die Aufhebung der Differenz von Innen und Außen, Subjekt und Objekt, Phantasie und Realität - ein unbewusster Wunsch entledigt sich seiner Abwehr durch das Ich. Außerhalb der Masse hätten wir damit einen pathologischen Fall. Als einen solchen diagnostiziert Wilting,  Autorin der Bahamas, ‚den islamischen Mann': »Gestillt wird er bis zu seinem dritten bis achten Lebensjahr. Zudem ist er der Augapfel der Mutter [...]. Er wird von ihr beständig geschaukelt, gewiegt, gehätschelt und verwöhnt. [...] Die Mutter fordert zwar auch von ihm, dann aufs Töpfchen zu gehen, wenn sie es wünscht, doch [...] er, der der Mutter alles ist, ist nicht darauf angewiesen, sich ihre Zuneigung zu ertauschen. Er lernt vielmehr die Befriedigung kennen, die es ihm verschafft, den Kot aufzustauen und erst dann herzugeben, wenn die Lust am Größten ist.«24

Angesichts solch einer Kindheit muss man einfach neidisch werden: Wer könnte glücklicher sein als Kinder, die sich als Augapfel der Mutter fühlen, gehätschelt und verwöhnt werden, noch nicht Gleiches mit Gleichem vergelten müssen, nicht unter Androhung von Liebesentzug sondern mit Geduld die Lust am selbständigen Kacken erproben dürfen? In diesem Beispiel geht die Analyse von der individuellen, vermeintlich pathologischen Entwicklungsgeschichte aus und macht die ausbleibende Verzichtserfahrung und die mit ihr verbundene mangelnde Aufrichtung des Über-Ichs zum ontogenetischen, entwicklungspsychologischen Ursprung autoritärer Charaktere. Die umstandslose Übertragung von individualpsychologischen Kategorien auf kollektive Prozesse führt geradewegs in die Völkerpsychologie.

Aber die individuelle, infantile Lust am eigenen Größenwahn führt - zumindest mit Freud - nicht zwangsläufig in den von antisemitischen Kollektiven. »Auch stößt die Diagnose der Gemeinschaftsneurosen auf eine besondere Schwierigkeit. Bei der Einzelneurose dient uns als nächster Anhalt der Kontrast, in dem sich der Kranke von seiner als ‚normal' angenommenen Umgebung abhebt. Ein solcher Hintergrund entfällt bei einer gleichartig affizierten Masse, er müsste woanders her geholt werden. «25 So ist z.B. die Religion für Freud keine Neurose. Im Gegenteil, sie ersetzt die individuelle Neurose. Werden Kategorien der Individualpsychologie kollektiven Phänomenen übergestülpt, verschwindet der Gegenstand der Psychoanalyse: das Subjekt - an seine Stelle tritt die Diagnose des Clichés. Gegen die Regression vom normativen Entwicklungsniveau des ödipalen Charakters ist dann nur der Genitalcharakter zu veranschlagen, mit stahlhartem Realitätsprinzip, das sich zu ducken weiß vor den Ansprüchen der äußeren Wirklichkeit.

Doch, wie im zweiten Teil ausgeführt, ist nicht das Verschwinden des verinnerlichten ödipalen Vaters das Spezifische der Masse, sondern, dass gleichzeitig durch die Ersetzung durch ein äußeres Objekt als kollektives Ichideal die phantasmatische Konstellation von Bruderhorde und Urvater im Inneren des Massenmitglieds auftaucht. Das Fortwirken der willkürlichen, irrationalen urväterlichen Gewalt infolge der Verinnerlichung durch das Subjekt begründet er nicht  darin, dass jedes Subjekt selbst sie aufs Neue erfährt - die Ontogenese ersetzt nicht die Phylogenese.

Freuds Vorstellung vom Weiterwirken des phylogenetisch Verdrängten und dessen Wiederbelebung und gleichzeitige Entstellung in gesellschaftlichen Phänomenen setzt den kollektiven Mythos an die Stelle eines psychischen Allgemeinen. Dieses ist das der einzelnen Psyche, der Lebensgeschichte der Subjekte, vorausgesetzte Resultat der kollektiven Geschichte. »Jedes Individuum durchläuft zwar in gewisser Hinsicht die Gattungsgeschichte noch einmal im Zeitraffer. Insofern enthält die Individualgeschichte viele erhellende Fingerzeige auf die Gattungsgeschichte. Aber es bleibt ein gravierender Unterschied, wie zwischen einem Hausbau und dem Einzug in ein fertiges Haus. Sobald der Aufbau des seelischen Apparats von der einfachen Wahrnehmung bis zum komplexen Bewusstsein [...] vollzogen ist, muss das Kleinkind sich in diesem Apparat nur noch einrichten. Das ist mühsam genug, aber ungleich komfortabler als ihn ‚aufzuschichten'.«26

Insofern herrscht zwischen Phylogenese und Ontogenese eine Ungleichzeitigkeit - die Phylogenese ist nicht einfach die spiegelbildliche Verdopplung der Ontogenese. Die kollektive Geschichte ist der des Einzelnen vorausgesetzt. »Das Bewusstsein der Subjekte wird von differierenden Zeiterfahrungen bestimmt: Die Uhren geschichtlicher und psychischer Zeit laufen nicht gleich.«27 Als der Subjektwerdung vorausgesetzte ist die Phylogenese zwar vorrangig, aber von der subjektiven Erfahrung nicht gänzlich ausgeschlossen. Die kollektive Geschichte ist wie alles qua Verdrängung Unbewusstgewordene nicht völlig der Erfahrung des Einzelnen entzogen - sie kehrt wieder, in entstellter Form. Die Verinnerlichung des äußeren Zwangs setzt die Kulturwerdung als Prozess der Herrschaft über die äußere wie innere Natur in Gang. »Furchtbares hat die Menschheit sich antun müssen bis das Selbst, der identische, zweckgerichtete, männliche Charakter des Menschen geschaffen war, und etwas davon wird noch in jeder Kindheit wiederholt. Die Anstrengung, das Ich zusammenzuhalten, haftet dem Ich auf allen Stufen an, und stets war die Lockung, es zu verlieren, mit der blinden Entschlossenheit zu seiner Erhaltung gepaart.«28

Die historische Wahrheit des Urvatermords übermittelt sich nicht: »Eine Tradition, die nur auf Mitteilung gegründet wäre, könnte nicht den Zwangscharakter erzeugen [...]. Sie würde angehört, beurteilt, eventuell abgewiesen werden wie jede andere Nachricht von außen [...]. Sie muß erst das Schicksal der Verdrängung [...] durchgemacht haben, ehe sie bei ihrer Wiederkehr so mächtige Wirkung entfalten, die Massen in ihren Bann zwingen kann [...]. Und diese Überlegung fällt schwer ins Gewicht, um uns glauben zu machen, daß die Dinge wirklich so vorgefallen sind, wie wir zu schildern bemüht waren, oder wenigstens ähnlich.«29

Verdankt sich das Weiterwirken nicht der mündlichen Übermittlung, so verortet sie sich außerhalb des Bereichs des Kognitiven, der Sprache, der Interaktion - und macht sich doch bemerkbar: als innerer Konflikt, als inneres Leid. Adorno bestimmt das Leiden als, wie Christine Kirchhoff30 es formuliert hat, ‚Index' dafür, dass die Gesellschaft eine vorausgesetzte Struktur ist. Gesellschaft wird unmittelbar da fühlbar, wo es wehtut - dass der Einzelne als Moment der Gesellschaft doch nicht ganz in ihr aufgeht, erweist sich im Leiden. Feststellbar wird die Nicht-Identität zwischen Subjekt und verselbständigtem Allgemeinen nur in der subjektiven Erfahrung - »Gleichwohl bedürfen die subjektiven Reaktionsweisen [...] ihrerseits unablässig der Korrektur am Objekt. Sie vollzieht sich in der Selbstreflexion, dem Ferment geistiger Erfahrung.«31

Die Möglichkeit der bewussten Reflexion entfällt durch die Entleerung des einzelnen Ichs in der Masse - die Verdrängung unbewusster Triebregung wird, wie Freud schreibt, abgeworfen und damit die Bahn frei für hemmungslose Projektion, die die Erfahrung von Ichfremdem abschneidet. »Was der Einzelne jeweils tun soll, braucht er sich nicht mehr in der schmerzhaften Dialektik von Gewissen, Selbsterhaltung und Trieben abzuringen. Für den Menschen [...] wird durch die Hierarchie der Verbände bis hinauf zur nationalen Verwaltung entschieden, in der Privatsphäre durch das Schema der Massenkultur, das noch die letzten inwendigen Regungen in Beschlag nimmt.«32

Das Spezifische des Erlebens in der Masse, die Auslagerung des individuellen Ichideals, bedeutet die Umkehrung einer durch die psychische Struktur vermittelten, verinnerlichten väterlichen Autorität in ein scheinbar unmittelbares, direktes Autoritätsverhältnis zwischen Massenmitglied und Führer. Die Konstellation von ödipalem Vater und Urvater enthält in der Massenpsychologie eine strukturelle Markierung einer Abwehr des Widerspruchs von Individuum und Gesellschaft im Subjekt in Form eines innerpsychischen Verschwindens der Ungleichzeitigkeit von individueller und gesellschaftlicher Geschichte.

Nicht aus der individuellen Regression kann die Bildung von Massen hergeleitet werden, dann wäre die Aufrichtung eines externen Ichideals nichts mehr als eine Ersatzbildung, in der die Befreiung vom inneren Konflikt zwischen Ich, Es und Über-Ich bzw. Ichideal eine individuelle Psychose einleiten würde. Wichtig ist aber nicht einfach das Verschwinden der Spannung, sondern die Ersetzung des Ichideals durch ein äußeres Objekt, dem die Autorität zugesprochen wird die eigenen Triebkräfte gleichsam zu kanalisieren. Nicht einfach Triebbefreiung, sondern Trieblenkung von außen. »Das Bild des Führers befriedigt den doppelten Wunsch der Geführten, sich der Autorität zu unterwerfen und zugleich selbst die Autorität zu sein. [...] Was man naiv als die ‚natürliche' Irrationalität der Masse ansieht, wird durch rational berechnete Techniken hervorgebracht. [...] Die Suggestion, die Freud genetisch erklärt, [ist] für die Aktualisierung dieses Potentials unentbehrlich [...]. Das aber heißt, dass der Faschismus eigentlich kein psychologisches Problem ist [...]. Wenn Massen von der faschistischen Propaganda ergriffen werden, so ist dies kein spontan-ursprünglicher Ausdruck von Trieben und Instinkten, sondern eine quasi-wissenschaftliche Wiederbelebung ihrer Psychologie - die künstliche Regression, die Freud [...] beschrieb.«33

Die Befreiung der inneren Konflikthaftigkeit und Übergabe jeglicher bewusster Entscheidungskraft an ein äußeres Objekt bedeutet das Ende des Subjekts - und damit hat die Psychoanalyse, als Wissenschaft von der Heteronomie des Unbewussten, ihren Gegenstand verloren, obgleich die Masse vom Unbewussten gelenkt wird. Die Entleerung des Ichs qua Angleichung an andere durch die Ersetzung des Ichideals durch eine äußere Instanz bezeichnen das von Adorno und Horkheimer prognostizierte Verschwinden des Individuums. Daher hat »Freud [...] den Punkt erreicht, an dem die Psychologie abdankt.«34 Dieser Punkt kann von der Psychoanalyse gerade erreicht werden, indem die Massenbildung nicht aus der individuellen Regression allein bestimmt wird, sondern die Regression in Verbindung gesetzt wird mit der Markierung der Grenze, die die Vergesellschaftung im Subjekt hat. Diese Markierung enthält der Mythos des Urvaters, der auf die im Subjekt wirksame Ungleichzeitigkeit von Phylogenese und Ontogenese verweist - diese fallen in der Masse zusammen. Angesichts des Erstarkens nationalistischer und antisemitischer Kollektive gilt es, gerade aufgrund des damit verbundenen Verschwindens des seiner selbst bewussten Ichs, die Psychoanalyse als Mittel der Erkenntnis der Irrationalität ernst zu nehmen. Gerade wenn die Ursache für diese nicht aus dem Subjekt selbst allein zu entwickeln ist, sondern aus der Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen. Für diese ist die Psychoanalyse nicht zuständig - aber gerade die Reflexion auf die Grenzen der Psychoanalyse ermöglicht es, wie Adorno formuliert, »im Ernst den subjektiven Bedingungen der objektiven Irrationalität«35 auf den Grund zu gehen.

 

Literatur:

Adorno, Theodor W. 1971: Die Freudsche Theorie und die Struktur der faschistischen Propaganda; in: Kritik. Kleine Schriften zur Gesellschaft, Suhrkamp, Frankfurt/M.: S. 34-66.

Adorno, Theodor W. 1974: Philosophische Terminologie I. Suhrkamp, Frankfurt/M.

Adorno, Theodor W. 1995: Zum Verhältnis von Soziologie und Psychologie; in: Soziologische Schriften I. Suhrkamp, Frankfurt/M.: S. 42-85.

Adorno, Theodor W. 1997: Negative Dialektik. Suhrkamp, Frankfurt/M. 1966.

Assmann, Aleida 2004: Persönliche Erinnerung und kollektives Gedächtnis in Deutschland nach 1945; in: Mauser, Wolfram/ Pfeiffer, Joachim (Hg.): Erinnern - Freiburger literaturpsychologische Gespräche Bd. 23: S. 81-92.

Claussen, Detlev 1988: Unterm Konformitätszwang. Zum Verhältnis von Kritischer Theorie und Psychoanalyse. Verlag Bettina Wassmann, Bremen.

Freud, Sigmund 1914: Zur Einführung des Narzissmus; in: Gesammelte Werke, Bd. X, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt/M. 1999: S. 137-170.

Freud, Sigmund 1921: Massenpsychologie und Ich-Analyse; in: Gesammelte Werke, Bd. XIII, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt/M. 1999: S. 71-161.

Freud, Sigmund 1930: Das Unbehagen in der Kultur; in: Gesammelte Werke, Bd.  XIV,  Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt/M. 1999: S. 419-506.

Freud, Sigmund 1937: Der Mann Moses und die monotheistische Religion; in Gesammelte Werke, Bd. XVI, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt/M. 1999: S. 101-246.

Kirchhoff, Christine 2004: Die Möglichkeit als eine der Wirklichkeit fassen. Über den Erfahrungsbegriff Theodor W. Adornos; in: Kirchoff, Christine/ Lars Meyer etc. (Hg.): Gesellschaft als Verkehrung. Perspektiven einer neuen Marx-Lektüre, ca ira Verlag, Freiburg: S. 83-104.

Türcke, Christoph 2008: Triebtransformation; in: Dirkopf, Frank/ Insa Härtel etc. (Hg.): Aktualität der Anfänge. Freuds Brief an Fließ vom 6.12.1896, transcript Verlag, Bielefeld: S. 113-144.

Wilting, Natascha 2007: Die Lust an der Unlust oder warum der Islam so attraktiv ist; in: Göllner, Renate/ Liljana Radonic: Mit Freud. Gesellschaftskritik und Psychoanalyse, ca ira Verlag, Freiburg: S. 143-168.

 

ANMERKUNGEN:

1) http://www.hafencity.com.

2) Vgl. Freud, Sigmund 1921: Gesammelte Werke XIII, S. 71-161.

3) Freud, Sigmund 1921: GW XIII, S. 107f.

4) Adorno, Theodor W. 1974: S. 181.

5) Ebd.

6) Ebd.

7) Adorno, Theodor W. 1971: S. 38.

8) Freud, Sigmund 1921: GW XIII, S. 98/100.

9) Freud, Sigmund 1921: GW XIII, S. 112.

10) Ebd.

11) Ebd., S. 82.

12) Löchel, Elfriede 2000: S. 102.

13) Freud, Sigmund 1914: GW X, S. 163.

14) Ebd., S. 161.

15) Freud, Sigmund 1921: GW XIII, S. 128.

16) Ebd., S. 129/138.

17) Ebd., S. 136.

18) Ebd., S. 138.

19) Ebd., S. 142.

20) Freud, Sigmund 1921: GW XIII, S. 136f./142.

21) Ebd., S. 137f.

22) Claussen, Detlev 1988: S. 34.

23) Bei mir hat mal ein Fußballfan in den Vorgarten gekackt.

24) Wilting, Natascha 2007: S. 155.

25) Freud, Sigmund 1930: GW XIV, S. 505.

26) Türcke, Christoph 2008: S. 115.

27) Claussen, Detlev 1988: S. 41.

28) Adorno, Theodor W./ Max Horkheimer 2002: S. 40.

29) Freud, Sigmund 1937: GW XVI, S. 209.

30) Vgl. Kirchhoff, Christine 2004.

31) Adorno, Theodor W. 1997: S. 57.

32) Adorno, Theodor W., zit. n. Claussen, Detlev 1988: S. 25.

33) Adorno, Theodor W. 1971: S. 50/ 62f.

34) Ebd., S. 64.

35) Adorno, Theodor W. 1995: S. 42.

 


(Als Vortrag gehalten auf dem im Mai 2008 in Bremen stattgefundenen Kongress »Deutschlandwunder - Wunsch und Wahn in der postnazistischen Kultur« - nähere Infos unter www.kittkritik.net)



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