Aktuell: 

Mai, 2019:
Ausgabe #10 ist erschienen

Lars Quadfasel

Gottes Spektakel

Zur Metakritik von Religion und Religionskritik

1. Teil: Aspekte des ungeglaubten Glaubens, oder:
Der heilige Schein des Kapitals


»Wir sind Papst«: Das Comeback der entkernten Religion

»Die Kritik der Religion«, stellt Marx in einer berühmten Passage fest, »ist die Voraussetzung aller Kritik.«1 Voraussetzung ist dabei ebenso als Bedingung wie als Ausgangspunkt zu verstehen: als etwas, ohne das es nicht geht, über das aber zugleich auch hinauszukommen ist - weil eben der geschichtliche Zustand selber wesentlich über seine religiöse Verklärung hinaus ist. Was aber, wenn die »Heiligengestalt der menschlichen Selbstentfremdung«, wie von Marx prognostiziert, zwar gänzlich »entlarvt« und entzaubert ist - und dennoch nicht weichen will?
Die paradoxe Situation, welcher die Kritikerin heute gegenübersteht, besteht darin, dass Religion ihr urtümlichstes Versprechen an sich selber verwirklicht hat: das vom Leben nach dem Tode. Widerlegt, erledigt und entmachtet, hat sie sich mit ihrem Sturz nicht bloß arrangiert, sondern daraus neue Kraft geschöpft. Das gilt zuvörderst für ihre christlichen Spielarten. Von Herrn über Könige und Kaiser sind sie zum Hilfsinstitut für Seelenhygiene herabgestürzt; ihr Monopol über Lebensführung und Weltdeutung ist ihr Stück für Stück von Aufklärung und Wissenschaft, von Standesamt und Pro Familia, von Kapital, Staat und Kulturindustrie entrissen worden; ihre Dome und Kathedralen fungieren hauptsächlich als Touristenattraktionen, ihre Prediger als Showmaster und ihr Papst als österlicher Grußaugust; in die Kirche geht man zu Weihnachten, weil es so gemütlich, und zu Firmung oder Konfirmation, weil es so einträglich ist, und gebetet wird am inbrünstigsten im Fußballstadion - aber die una ecclesia und ihre protestantischen Ableger fühlen sich pudelwohl in ihrer Existenz als sentimental mitgeschlepptes Relikt aus frommen Tagen. Gerade im säkularsten Staat der Welt, den USA mit ihrer konstitutiven Trennung von Staat und Religion, boomt das Glaubensgeschäft, das nicht erst seit der Präsidentschaft des ‚Reborn Christian' George W. Bush seine rasant wachsende politische wie ökonomische Macht unter Beweis stellt. Gegen die Christian Values, deren ebenso bizarre wie barbarische Konsequenzen sich regelmäßig anhand der Kreuzzüge gegen Abtreibung, Sexualaufklärung, Schwulenemanzipation und Evolutionstheorie studieren lassen, sind kaum Wahlen zu gewinnen; und die Hoffnung, sie mögen sich durch ihre subalternen Vertreter irgendwann einmal desavouieren, blamiert sich beständig an jenen evangelikalen Predigern, die, beim Fremdgehen ertappt, von ihrer Gemeinde nur umso fanatischer durch Spenden und Gebete gestützt werden.
Kein Grund jedoch, mit Hohn und Spott auf die Scheinheiligen von Übersee zu reagieren; erst recht nicht in einem Land wie Deutschland, das noch jedes bürgerliche Mindestmaß an Säkularisierung unterschreitet. Über den Skandal, dass der Staat von alters her den Kirchen nicht nur den Religionsunterricht und den Löwenanteil der sozialen Dienstleistungen überlässt, sondern zu allem Überfluss auch noch die Vereinsbeiträge eintreibt, erregen sich von denen, die herablassend über die puritanischen Amis herziehen, die allerwenigsten. Und während in den USA die evangelikalen Gotteskrieger immer auch mit leidenschaftlichem Widerstand konfrontiert werden, finden hierzulande, im Herzen der Friede-Freude-Eierkuchen-Volksgemeinschaft, die Pfaffen über alle Parteigrenzen hinweg offene Aufnahme. Es waren schließlich die hiesigen Linken und Alternativen, die um des lieben Friedens willen christliche Rituale, Ringelpiez und Klampfenlieder aus der mittelalterlichen Versenkung holten. Die Quittung wird ihnen nun präsentiert, seit Jugendliche nicht mehr zu Rock gegen Rechts, sondern zum Kirchentag strömen, und Infostände in der Uni nicht mehr soziale Missstände anprangern, sondern vorehelichen Geschlechtsverkehr; seit der Tod einen senilen polnischen Antikommunisten zum hysterisch betrauerten Sieger im Lady-Di-Ähnlichkeitswettbewerb machte und, als Folge dieses Ereignisses, »Wir« nach Fußball- und Aufarbeitungsweltmeister auch noch »Papst« geworden sind.
Das mag, im Vergleich zu Attentaten auf Abtreibungsärzte, vergleichsweise harmlos erscheinen. Nur ist Dubiosität, wie die Geschichte aller überdrehten Massenbewegungen zeigt, selten ein Entwarnungsgrund. Spätestens seit die islamische Glaubensoffensive Europa erreicht hat, spüren auch die Kulte der Eingeborenen wieder Oberwasser: Dass Frauen unter den Schleier gezwungen werden können und Mädchen unter die häusliche Knute; dass die Scharia in Eigenregie angewandt und zum Segen Allahs gedroht, gefoltert und gemordet werden darf, ohne dass der Mehrheit viel anderes einfiele, als die Toleranz und die Friedensliebe des ‚wahren Islam' zu beschwören - das hat auch die Christen endlich wieder dreister gemacht. Als der iranische Dikator Chomeini seinen Mordaufruf gegen Salman Rushdie verkündete, »brachten der Vatikan, der Erzbischof von Canterbury und der israelische Oberrabbiner ihr Mitgefühl zum Ausdruck - mit dem Ayatollah«2. Nach jedem inszenierten Aufruhr, jeder Straßenschlacht und jeder angedrohten Vergeltung wegen ‚antiislamischer' Reden, Schriften oder Karikaturen folgt das immergleiche Schauspiel: Katholiken und Protestanten, Mono- und Atheisten, Liberale und Linke stehen Hand in Hand und warnen davor, die religiösen Gefühle der Muslime zu beleidigen. Und es war immerhin der Justizminister der vorbildlich säkularen Niederlande, der nach dem Fememord an Theo van Gogh die Wiedereinführung des Blasphemieparagraphen im Strafgesetzbuch forderte. 

Die Privatisierung Gottes

Schon Marx hat sich, in seiner Schrift »Zur Judenfrage«3, mit der Tatsache auseinanderzusetzen gehabt, dass die Mutation der Religion zur Privatsache deren »Lebensfrische« nicht im mindesten Abbruch zu tun schien. Er begriff daher die Privatisierung des Gotteswesens, deren Reinform er in den USA mit ihrer Zersplitterung in unzählige konkurrierende Sekten vorfand, als untrügliches Anzeichen für die Unzulänglichkeit der rein politischen Emanzipation: Wie sich in der Religion das Gattungswesen nur imaginär, nur als jenseitige Chimäre konstituiert, wird es auch durch den säkularen, d.h. bürgerlichen Staat nur abstrakt verwirklicht, nämlich getrennt vom und im Gegensatz zum wirklichen, materiellen Alltag. Der Bürger, der sich als Staatsbürger von seiner religiösen Beschränkung emanzipiert, emanzipiert sich, mit anderen Worten, in einer selbst nur besonderen, beschränkten, nämlich idealen Gestalt, während er in seiner profanen, privaten Existenzform seine Allgemeinheit negiert - er gerade dort also, wo er sich selbst am nächsten ist, in der Entfremdung befangen bleibt. »Die Religion«, resümiert Marx, »gilt uns nicht mehr als der Grund, sondern nur noch als das Phänomen der weltlichen Beschränktheit. [...] Sie ist nur noch das abstrakte Bekenntniß der besonderen Verkehrtheit, der Privatschrulle, der Willkür.«
Zu ergänzen wäre freilich, dass Religion die Spaltung des Gemeinwesens in Staat und Gesellschaft, des Menschen in Citoyen und Bourgeois nicht nur ausdrückt, sondern auch internalisiert. Ins Schattenreich des Privaten verstoßen, regeneriert der Glauben sich in dessen Schutz: Alles Wesentlichen, seiner Substantialität und Allgemeinverbindlichkeit, beraubt, gewinnt er erst seine zukunftsträchtige Gestalt. Als Bekenntnis zur Willkür kann Religion es gar nicht willkürlich bei der Privatschrulle belassen; denn gerade als Privatschrulle ist sie öffentlich von Belang.
Nicht bloß in dem Sinne, dass sie im Eldorado der bürgerlichen Existenz, dem sinnstiftenden Markt, als Spartenführer in Sachen Daseinskohärenz und karitative Betüdelung Triumphe feiert.4 Die geistliche Rundumbetreuung, nach der die Bürger immer dann verlangen, wenn es ihnen besonders wohlig zumute sein soll oder besonders unwohl zumute ist, die religiöse Deutungshoheit über Einsamkeit, Krankheit, Tod und Trauer wie über Hochzeiten und Feiertage verleiht dem Glauben den Glanz der besonderen, weil besonders intimen Momente. Als »Wellnessreligion«5, die erbauliche Moralvorstellungen für Jedermann verbreitet und Seelenbalsam in Krisenzeiten parat hält, profitiert das Christentum (wie auch sein weniger weichgespülter Vetter, der Islam) von dem Tabu, das derlei private Sinnstiftungsangelegenheiten niemand Fremden etwas angehen; um dann, derart gegen jede Kritik immunisiert, zum Angriff übergehen zu können. In seiner klugen Studie zur Renaissance der Gotteslästerung weist der Kulturanthropoge Jean-Pierre Wils auf den Wandel hin, den dieses Delikt in der Moderne erfahren hat: Während in voraufklärerischen Zeiten Gott selber als der durch Blasphemie Erzürnte galt, wird diese heute vielmehr als Angriff auf die Identität der Gläubigen begriffen, denen der öffentlich inszenierte Unglauben, im wahrsten Sinne des Wortes, zu nahe tritt. Gerade die stimmungsvolle Innigkeit des Krippenspiels oder der Friedenspredigt, der Ramadanzerenomie oder der Dalai-Lama-Rede, bei der auch manch Heidenkind und manche Agnostikerin gerne die Seele baumeln lässt, erinnert, wenn durch kalte Vernunft und grausame Spottlust gestört, daran, was Wils prägnant auf die Formel bringt: »Gott ist nicht gemütlich«.
Wie die Diminuisierung der Religion, ihre Verniedlichung, deren Kritiker erst zu gefühllosen Unmenschen stempelt, so wendet sie noch jede Depravation zu ihrem Segen. Als ausgehöhlte, die keine Ansprüche stellt als Armut im Geiste und regelmäßige Kirchensteuer, steht sie so recht für alle offen. Niemand muss sich in komplizierten scholastischen Fragen auskennen oder gar die Verrenkungen der Trinitätslehre verstehen, keiner braucht irgendwelche Psalmen auswendig zu können oder auch nur das Vaterunser; die Pfaffen - welch herrliches Gefühl - reißen sich auch so um einen. Drei Viertel aller amerikanischen Christen, referiert Richard Dawkins eine Umfrage aus den Goldenen Fünfziger Jahren, kannten keinen Propheten des Alten Testaments, und weniger als ein Drittel wussten, wer die Bergpredigt gehalten hat.6 Es reichte schließlich (und reicht heute, in postmodernen Zeiten, erst recht) zu wissen, wo der Feind steht: bei den Schwulen und Lesben, den minderjährigen Müttern und den gottlosen Liberalen. Prinzipien, Gebote, der Zwang zum geistigen Nachvollzug können dabei nur in die Quere kommen. Erst die entkernte Religion, die nichts zu sagen hat, befriedigt das Bedürfnis nach Autorität sans phrase.7

Die Ohnmacht der Vernunft gebiert Gotteshäuser

Natürlich ist die Macht, die daraus für die institutionalisierten Gottesverwalter erwächst, immer auch Schein. Ihr Spielraum ist so groß, wie das Kapital, das sich selbst Verklärung genug ist, es zulässt.8 Wo substantielle Interessen, etwa der Stammzellenforschung, berührt sind, wird der Glaube, verbrämt höchstens durch einige ehrenvolle Rückzugsgefechte, in seine Schranken verwiesen. Gerade die Tatsache aber, dass es bei den religiös hegemonialisierten Themen eigentlich um nichts geht, prädestiniert Religion zum Schibboleth, zum Heerzeichen derjenigen, die - ob aus Fatalismus oder aus Kalkül - mit dem, was Menschen möglich wäre, luxe, calme et volupté, nicht einmal mehr in ihrer armseligen und amputierten bürgerlichen Wirklichkeit konfrontiert werden möchten. Unterdrückung, die nichts einbringt, ist in der Krise das, was man sich einfach leisten können muss. Dass in einem Land, das keine allgemeine Krankenversicherung kennt und von einer Finanzkrise in die nächste schliddert, Fragen der Schwulenehe und der Enthaltsamkeitspropaganda Wahlen zu entscheiden vermögen, während selbst die in die Ghettos Gepferchten statt zum Aufstand zum Gottesdienst oder in die Nation of Islam strömen, zeigt den Stellenwert an, den die Versprechen auf Vernunft und Freiheit noch genießen. Das gilt erst recht für die islamisierten Landstriche des Nahen Ostens, für Gaza etwa oder die libanesischen Flüchtlingslager, in denen die Darbenden all ihre Kraft jenen bösen alten Männern unterstellen, deren Heiliger Krieg gegen Zionisten, Kreuzzügler und Sittenverfall ihnen das Elend nur verewigen kann. Es gilt aber auch für Deutsch-Europa, wo die Ausgegrenzten der Vorstädte statt auf Unterstützung auf Islamunterricht rechnen können, ohne sich verschaukelt zu fühlen, während die von Pleitewellen und Börsencrashs gebeutelte und hysterisierte Mittelschicht konfessionsübergreifend in jedem Scharlatan, der einen direkten Draht zu Gott beansprucht, ihren neuen Sinnstifter erblickt - gleich ob es sich um einen bayrischen Ex-HJ-Jungen handelt oder um einen entthronten mittelasiatischen Feudalherren.9
Wenn Religion einmal die Hinnahme des irdischen Jammertals durch den Ausblick aufs himmlische Paradies betrieb, so heute durch die Absage ans bessere Leben überhaupt. Einmal demontiert durch die Versprechen der Aufklärung, bedeutet die Rückkehr zu jener den Verrat an dieser. »Seufzer der bedrängten Kreatur«, wie Marx sie nannte, kann Religion nur solange sein, solange die Menschen sich anders nicht auszudrücken wissen. Wider besseren Wissens beschworen, wandelt sie sich jedoch zum Rülpser der Verachtung; verkündet sie nicht die Hoffnung aufs Jenseits, sondern die allumfassende Hoffnungslosigkeit - das also, was sie selber, in ihren besseren Tagen, unter die Todsünden rechnete.

Hiobs Klage, Heines Ironie: Exkurs zu Leiden, Tod und Glaube in der Moderne

Dass Religion etwas durchaus anderes bedeutet als noch vor tausend oder auch hundert Jahren, das bestätigt auch der Schriftsteller und Orientalist Navid Kermani in seinem aktuellen Buch über die heiligen Rebellen wider Gott10 - wenn auch unfreiwillig, nämlich im Versuch, das genaue Gegenteil zu beweisen. Marx' Satz zitierend, das religiöse Elend sei gleichermaßen Ausdruck des wirkliche Elends wie die Protestation dagegen, fährt er fort: »Marx definierte das Elend sozial und war überzeugt, dass die Revolution es beseitigen könne; versteht man das Elend existentiell und verliert die Hoffnung, es aufheben zu können, schon weil Tod und Leiden unabwendbar scheinen, verwandelt sich die Kritik an der Religion in ihre Beschreibung.«11 Und genauso beschreibt er dann auch die Religion: als etwas, was Leiden ertragen lässt, was Sterben hilft - und sei es dadurch, dass sie den Leidenden, wie den Protagonisten seines Buchs, einen Adressaten ihrer Klage liefert.
Der Glaube so unabwendbar wie der Tod: Das klingt fast schon entwaffnend einsichtig. Nur übersieht es, dass selbst der Tod, wenn schon nicht aufhebbar, dann doch auch nicht unwandelbar ist. Als Urbild all dessen, was Menschen trostbedürftig macht, fungierte er in vorbürgerlichen Epochen; denn unter den Bedingungen eines kaum entwickelten Mehrprodukts erscheint noch das, was Menschen einander antun, als gleichsam unverrückbares Schicksal, die Not selber als so naturnotwendiger Bestandteil dieser Welt, dass Hoffnung nur auf die nächste zu richten ist. Im Kapitalismus aber verhält es sich genau umgekehrt: ist die Erfahrung leiblichen Schmerzes dem gesellschaftlich verursachten nachgebildet. Was Sterben heißt, erfährt der Bürger, der weiß, dass keiner mehr hungern müsste, an den Leichenbergen von Äthiopien und Uganda, von Auschwitz und Bergen-Belsen: Es heißt, durchs Raster der Herrschaft zu fallen und als menschlicher Abfall zu krepieren. Es ist am Tod nie allein der Tod zu fürchten, sondern vor allem die Tatsache, dass er, unter den herrschenden Verhältnissen, nur den logischen Schlusspunkt unter ein ungelebtes Leben setzt; dass die Apparate, die einen beim Dahinsiechen ans Krankenbett fesseln, nur das letzte Kettenglied aus Abhängigkeit und Ohnmacht bilden; dass man selber einmal so spurlos aus der Welt verschwinden könnte wie einst die namenslosen Opfer der Vernichtungslager, die von den Volksgenossen nicht betrauert und nicht vermisst wurden. (Möglicherweise erklärt das auch, warum, nach einer von Dawkins zitierten Studie12, gläubige Christen mehr, nicht weniger Angst vorm Sterben als Atheisten haben: Weil das Grauen der Welt sie schon zu Lebzeiten daran erinnern muss, dass sie im Jenseits wohl keinen freundlichen alten Herrn mit Bart zu erwarten haben, sondern einen sadistischen Voyeur.)
Sein mangelndes historisches Sensorium schlägt Kermani dann auch bei der Auswahl seiner Gewährsleute ein Schnippchen. Als Protagonisten der »metaphysischen Revolte«, als Gläubige, die, empört durch das Unrecht und den Jammer der Welt, zur Anklage gegen den Schöpfer selber schreiten, präsentiert er neben Hiob, dem schuldlos Verdammten der biblischen Überlieferung, und dem persischen Dichter Attar, der, 600 Jahre nach Mohammed, in seinen Liedern daran verzweifelt, dass es in der Welt nichts zu hoffen und nichts zu preisen gibt, auch den todkranken Heinrich Heine in seiner Matrazengruft. Hiob, Attar, Heine: was für ein atemberaubender Brückenschlag; aber was für ein brüchiger auch. Denn während die Hiob-Erzählung und die Lieder Attars die Allmacht und Güte Gottes selbstverständlich voraussetzen, ja, diese nachgerade ernster nehmen als Gott selber, um ihn so, quasi von Angesicht zu Angesicht, zur Rede stellen zu können, geht Heine genau umgekehrt vom Zweifel aus. Seinen Weg vom Pantheismus der Aufklärer zurück zu einem personalen, einem »zweibeinichten Gott«, an den er sich in seinem Leid wenden könne, protokolliert er nicht nur in unerbittlicher Selbstreflexion: »Ich liege in großen Schmerzen und fange wieder viel zu beten an, was immer ein schlechtes Zeichen ist.«13 Noch die direkte Hiob-Referenz, die »Labung« an »fluchenden Gotteslästerungen«, bleibt stets ironisches Zitat: »Ich werde fast wahnsinnig vor Aerger, Schmerz und Ungeduld. Ich werde den lieben Gott, der so grausam an mir handelt, bey der Thierquälergesellschaft verklagen.«
Der Heinesche Glaube, heißt das, erfüllt als explizit moderner exakt den modernen Sinngehalt des Wortes: als Gegensatz zum Wissen. Glaube, besagt das, enthält in sich immer schon die Möglichkeit, ebensogut nicht zu glauben. Nur dadurch, dass Heine diese Tatsache einbekennt und damit auch die unüberbrückbare Differenz zu den Gottesfürchtigen von einst, bewahrt er die Authentizität seines verzweifelten Glaubenswunsches, die all den heutigen Heiligendoubles gerade abgeht.

Der ungeglaubte Glaube und der Islamneid des Westens

Denn ein Irrtum ist es ja, zu glauben, dass all die Anhänger von Robertson und Farrakhan, von Papst Ratzeputz und dem tibetanischen Schmunzelmonster dabei wirklich glaubten. Oder wenn, dann allenfalls daran, dass es sich mit einem Glauben, egal woran, besser leben lasse. »Glaube an den Glauben« nennt der Religionsforscher Daniel C. Dennett dies14; Adorno spricht - einfacher und treffender - von ungeglaubtem Glauben. (Das gilt selbst für den Islamismus, der zwar in der arabischen, anatolischen oder persischen Provinz auf ein vergleichsweise größeren Pool traditionellen, durch keinerlei Aufklärung gebrochenen Glaubens zurückzugreifen vermag, seine aggressivsten Kader aber aus der ehemals säkularen, nicht selten westlich gebildeten Mittelschicht rekrutiert.) Ihre genuine Gestalt findet diese Pseudoreligiösität, die von Blasphemie kaum zu unterscheiden ist15, daher im Konsum des Glaubens der Anderen.
Dass die Glaubenspromis gleich welcher Konfession - von Mutter Theresa bis zu Seiner Heiligkeit dem Dalai Lama - allüberall als Vorbilder propagiert und gepriesen werden, liegt ja beileibe nicht an deren (recht überschaubar bleibenden) guten Taten oder an deren als Weisheit ausgegebenen Kalendersprüchen. Es beruht auf der Unterstellung, sie verkörperten, was dem Durchschnittsbürger heute abgeht: ein naives Verhältnis zum Heiligen. Sakralisierung ist der Dank der Fans an die, die für einen zu glauben bereit sind.
Seine politischen Brisanz gewinnt dieses Verhältnis im okzidentalen Islamneid. Die deutsch-europäische Kumpanei mit den apokalyptischen Schlächtern vom Schlage eines Ahmadinejad mag ihren handfesten wirtschaftlichen Unterpfand haben; und die Imame, die in den migrantischen Communities die Abgrenzung von der gottlosen Mehrheitsgesellschaft, ihren säkularen Gesetzen und emanzipatorischen Errungenschaften predigen, stellen natürlich zugleich einen unersetzlichen Ordnungsfaktor dar. Seltsam zögerlich und unentschlossen aber ist das staatliche Handeln selbst dort, wo vitale Interessen berührt sind, die eigenen Staatsbürger im Ausland und das staatliche Gewaltmonopol im Inland bedroht werden. Und bei allem einfühlsamen Verständnis für Green Pride und djihadistische Pflichterfüllung, für Reinheitswahn, Schleierzwang und Tugendterror, so steht doch immer fest, dass man als Nichtmuslim zwar die Feindbilder teilen kann, nie aber die ihnen zugrunde liegende Zielbestimmung. Weder steht das europäische Kalifat auf den politischen Agenden, noch werden Massen vom Wunsch nach der Himmelfahrt ins Jungfrauenbordell ergriffen; und Konversionen zum Islam bilden selbst unter den autoritärsten Charakter bislang eher die Ausnahme.
Am Bild, das man sich von den fanatisierten Muslimen macht, fasziniert vielmehr, dass sie nicht so sind wie ‚wir': nicht so dekadent, so angepasst und feige: dass sie noch wissen, wofür es sich zu sterben lohnt.16 Wie das Konservendosengelächter in der Comedy dem Zuschauer die Last abnimmt, selber Spaß haben zu müssen, so entlastet der islamische Terror den westlichen Betrachter von dem Zwang, aus seinen eigenen Ressentiments die praktischen Konsequenzen zu ziehen. Er delegiert seine Sehnsucht nach Macht und Unterwerfung, nach Überhöhung der Tat und Entwertung des Geistes, kurz: nach einem Leben zum Tode an die, deren mörderischen Eifer er im Fernsehen vorgeführt bekommt; er lässt die Gotteskrieger jene antisemitischen, antiamerikanischen und antizivilisatorischen Affekte austragen, die zur Gänze selber auszuschöpfen dem Wunsch nach reibungslosem Fortkommen im Wege stehen könnten.
Es gibt, schrieben Adorno und Horkheimer 1947, keine Antisemiten mehr - denn noch die barbarischste Überzeugung bleibt doch als Überzeugung an den Zwang zur individuellen Synthesis gekoppelt. Wo die gesellschaftlich vorgestanzten Reaktionen vorherrschen, im Ticket, ist diese Reaktionsform den Individuen zugleich ganz äußerlich. Dass in den Metropolen mit dem Zerfall des Subjekts selbst die Kraft zu hassen zu schwinden scheint, mag, je nach dem Verlauf der weiteren Geschichte, den endgültigen Untergang der Menschheit ankündigen - oder aber die einmalige Chance bieten, diesem Untergang Einhalt zu gebieten.

Kultusindustrie

Für ihre Kunden Wünsche und Sehnsüchte auszuleben, bevor sie dem Besitzer zur Last fallen können, ist, seit es sie gibt, vornehmste Aufgabe der Kulturindustrie. In der Religion hat sie folgerichtig ein dankbares Sujet gefunden. Von den Televangelisten bis zu den Open-Air- und Motorradgottesdiensten, von der Weihnachsstimmung bis zur weltweit ausgestrahlten Ostermesse, vom Wallfahrtskitsch in Lourdes bis zur Pauschalreise mit Papstaudienz im Petersdom lebt der Glaube von seiner technischen Reproduzierbarkeit. (Der islamische, trotz seines Rufes als prinzipienfester Antimodernismus, übrigens kaum weniger als der christliche; erinnert sei nur an die speziell für Ramadan gedrehten Soaps17, die islamistischen Modenschauen für Kopftücher18 oder die auf Al-Jazeera und im Internet heiß begehrten Snuff-Movies djihadistischer Geiselnehmer.)
Falsch wäre jedoch die Vorstellung, es nutzten die Pfaffen Funk und Fernsehen und Masseninszenierungen machiavellistisch für ihre Sache. Kulturindustrie hat stets ein Gespür für das, was sich ihren Regeln unterwerfen lässt. God sells, fast so gut wie Sex.19 Tatsächlich hat die Religion in der Kulturindustrie, der »Aufklärung als Massenbetrug« (Adorno / Horkheimer), ihren legitimen Nachfolger gefunden: Wie einst auf Gott, nach Feuerbachs Theorie, die Menschen projizierten, zu was sie als Menschen fähig wären, so heute auf die Kulturindustrie, die den Massen ihre ans Kapital abgetretenen Potenzen als Konsumgut vorsetzt. Der Schein, den die Traumfabriken ausstrahlen, gerät dadurch immer auch zum Heiligenschein; nicht umsonst nennen Fans ihre Stars, ob Fußballtorwart oder Indiesänger, so gerne Gott. Religion ist da bloß eine, wenn auch besonders gut geeignete, Sparte.
Man neigt dabei leicht dazu, den katholischen Hang zu Grandezza, Weihrauch und anderem kultischen Zinnober für besonders kompatibel mit kulturindustriellem Spektakel zu halten; und tatsächlich hat ja auch der bereits erwähnte Herr Wojtila einiges an Arbeit geleistet, den Heiligen Stuhl zu entstauben und telegener zu gestalten. Dennoch sollte nicht vergessen werden, dass die maßgeblichen Fernsehprediger - nicht anders als all die verrückten brasilianischen Fußballprofis, die zum Torjubel ihre »I love Jesus«-Werbebotschaften präsentieren - samt und sonders den diversen protestantischen Sekten entstammen. Tatsächlich nimmt gerade die spartanische, jedes papistischen Pomps abholde Spielart des Christentums in ihrem Ideal des einsamen Zwiegesprächs mit Gott die Situation des modernen Fernsehzuschauers vorweg.
Wie sehr die bürgerliche Entfaltung der Religion, gerade kraft ihrer Tendenz zur Vergeistigung, zur Kulturindustrie gravitiert, lässt sich an deren Höhe- und Endpunkt, den theologischen Schriften Schleiermachers, studieren.20 Als Propagandist eines romantischen Protestantismus entrückt der Zeitgenosse Hegels und Schellings, ganz in der Bahnlinie der Aufklärung, die Religion aus allem weltlichen Geschehen. Insbesondere grenzt er sie - äußerlich bescheiden, aber mit dem Selbstbewusstsein der Innerlichkeit - scharf von ihren einstigen Domänen, der Metaphysik und der Moral, ab. Statt aktiv auf Weltbemächtigung und -veränderung auszugehen, habe sie vielmehr »in kindlicher Passivität« sich von der Unendlichkeit, an die kein Mensch heranreiche, »ergreifen und erfüllen« zu lassen; »ihr Wesen«, so lautet sein Credo, »ist weder Denken und Handeln, sondern Anschauung und Gefühl.« In die Nebelregionen der Empfindsamkeit versetzt, macht es sich der protestantische Glaube so recht gemütlich. Wer nur still und bescheiden die Aussicht auf jenes Gelobte Land genießen will, das sich hinter den Grenzen der Aufklärung auftut, den bringt hektische Betriebsamkeit leicht aus der Ruhe.
Keinem soll Gott daher zu nahe treten, nicht durch seinen Zorn und nicht durch seine Institutionen; und selbst die Heilige Schrift, gegen deren wörtliche Auslegung durch »Buchstabentheologen« Schleiermachen sich scharf abgrenzt, will niemandem mehr etwas vorschreiben. Erst im Jenseits von Wort und Tat eröffnet sich schließlich der Sinn: dass nämlich das Wesentliche erst nach dem harten Tagwerk des Begriffs, der Schufterei der Weltaneignung zu haben ist. Nicht zufällig vergleicht Schleiermacher mehrfach die erhebende Wirkung des Glaubens mit jener der Musik, welche bekanntlich die Seele stärkt. So wird die beschaulich gewordene Religion zum Vorbild jener aufdringlich-unaufdringlichen Dauerbeschallung, die in Bahnhöfen und Einkaufszentren dafür sorgt, dass die Kunden entspannt ihren Geschäften nachgehen können.

Gottes Dienst an der Ware

Der Gläubige als Konsument verweist darauf, dass es nicht allein die protestantische Arbeitsethik ist, der sich der Kapitalismus verdankt; wie wiederum auch die Absorption der Religion durch die Kulturindustrie nur einen Spezialfall ihrer weit allgemeineren Absorption durchs Warenspektakel darstellt. Walter Benjamin hat in einem frühen Fragment zu »Kapitalismus als Religion«21 darauf hingewiesen, dass das Reformationschristentum nicht einfach, wie in Max Webers berühmter These, den Kapitalismus durch diese oder jene Eigenschaft »begünstigt« habe, sondern diese Vergesellschaftungsform selber »als eine essentiell religiöse Erscheinung« zu begreifen ist - dass also das ornamentale Pfaffenbeiwerk, mit dem das Kapital sich schmückt, nicht auf bloße Indienstnahme zu reduzieren ist, sondern als Residuum auf einen weit substantielleren Transformationsprozesses verweist: eine (um im Milieu zu bleiben) ganz und gar weltliche wie ganz und gar mystische Transsubstantiation.
In der Tat ist die sakrale Aura, die den Warentausch umgibt, schwer zu übersehen. Die im 19. Jahrhundert erbauten Lagerhallen der Hamburger Speicherstadt etwa erinnern mit ihren Rundbögen und Klostergängen mehr an Tempel und Kathedralen denn an nüchterne Zweckbauten; so erlaubt es sich selbst der Pfeffersack mit seinen Kaufmannstugenden, jenen kultischen Dienst an der Ware zu leisten, der den heiligen Weltmarkt gnädig stimmen soll.22 Und was schon dem Hochkapitalismus recht war, ist seiner krisenhaften Zerfallsperiode erst recht billig. Die Cargo-Kulte primitiver Südseestämme, in denen rituelle Landebahnen jene Flugzeuge wieder anlocken sollen, die einstmals das göttliche Mana namens Schokolade vom Himmel fallen ließen23, faszinieren weltweit die Anthropologen; dabei hätten diese in den zahlreichen Jobtrainings, Psychoratgebern, Selbstoptimierungsseminaren und anderen schamanistischen Unternehmungen reichliches Anschauungsmaterial vor Ort. Was in Sozialschmarotzerdebatten und Casting-Shows gepredigt und im Bachelorstudiengang oder der Weiterbildungsmaßnahme, im Fit for Fun-Workout oder bei »Dr. Kawashimas Gehirnjogging«, kurz: in der rastlosen Arbeit an sich selber rituell durchexerziert wird, ist als Stand des Bewusstseins vom primitiven Animismus kaum zu unterscheiden: dass bei Erfüllung aller meiner Pflichten das Kapital mir seine Gunst erweisen muss; dass die Seligkeit in meiner Hand liegt.
»Es trägt«, heißt es bei Benjamin, »zur Erkenntnis des Kapitalismus als einer Religion bei, sich zu vergegenwärtigen, dass das ursprüngliche Heidentum sicherlich zu allernächst die Religion nicht als ein ‚höheres', ‚moralisches' Interesse, sondern als das unmittelbar praktische gefasst hat, dass es sich mit anderen Worten ebensowenig wie der heutige Kapitalismus über seine ‚ideale' oder ‚transzendente' Natur im klaren gewesen ist.« In der Tat finden all die kultischen Handlungen, die Verwertung zu beschwören, in dem Umstand, dass sie als nichts denn als purer Utilitarismus erscheinen, ihren stärksten Halt. Es spiegelt sich darin die allgemeine Bewusstlosigkeit wider, die das Kapital naturnotwendig produziert. Und wie unsere Vorfahren hilflos der Übermacht der Natur ausgeliefert waren, die sie als Zorn der Geister, Götter und Dämonen verzweifelt zu begreifen suchten, so haben die Heutigen allen Grund, die Naturkatastrophen der Gesellschaft zu fürchten. Selbst wer oben ist, kann nie wissen, welches Schicksal für ihn in petto steht, wenn die rastlose Umwälzung alles Bestehenden, durch welche das Kapital sich erhält, voranschreitet. Nicht anders als die Primitiven huldigen die Bürger dem, was sie zu zermalmen droht.
Der Kapitalismus ist daher nicht bloß »die Zelebrierung eines Kultes sans rêve et sans merci«, an dem kein Tag »nicht Festtag in dem fürcherlichen Sinne der Entfaltung allen sakralen Pomps, der äußersten Anspannung alles Verehrenden wäre«. Er ist auch und vor allem, wie Benjamin schreibt, »der erste Fall eines nicht entsühnenden, sondern verschuldenden Kultus«. Vor der ungeheuren Warenansammlung der bürgerlichen Gesellschaft kann dessen einzelnes Mitglied nur demütig auf die Knie fallen. Die maßlose, selbstzweckhafte Verwertung setzt den Wert, diesen unbewegten Beweger, der stets mit sich identisch bleibt, obgleich und gerade weil er in keiner Gestalt dingfest zu machen ist, als legitimen Nachfolger Gottes24; und seine Potenz, die Unendlichkeit des G-W-G', transzendiert den endlichen Horizont jedes Individuums. Die Akkumulation von Reichtum mag den phantasmatischen Versuch des Bürgers bezeichnen, an der kapitalen Ewigkeit teilzuhaben; jeder neue Besitz aber stößt ihn nur schmerzhafter auf die Beschränktheit alles Irdischen, und keine aufgehäufte Erbmasse ist groß genug, den Eintritt ins Himmelreich des Werts zu verbürgen. Reine Quantität ist, anders als stofflicher Reichtum, unendlich steigerbar. Stets kann Kapital noch vermehrt werden, und muss es daher; stets zeigt der Tauschwert einen Gebrauchswert an, in den er noch nicht übergegangen ist, und erheischt es dadurch. Weil die Produktion um der Produktion willen keine Aussicht auf ein Ende mehr kennt, weder Paradies noch Jüngstes Gericht; weil selbst Börsencrash und Weltkrieg nur zu noch größeren Akkumulationsanstrengungen anstacheln, wird die Welt zu eben der Hölle, die abzuwenden der Dienst am Wert angetreten ist.
Vielleicht ist es daher genau das, was die Menschen dabei antreibt: dem Elend endlich ein Antlitz zu geben; vielleicht ist das rastlose Mitmachen der verzweifelte Versuch, den namenlosen Gott, dessen Kult sie betreiben, dazu zu zwingen, sein Gesicht zu zeigen, selbst wenn es sich als das des Teufels entpuppt. »Sie wissen nicht, was sie tun«, sagt Jesus über seine Schänder; Marx, nur um eine Nuance verschieden, stellt fest: »Sie wissen es nicht, aber sie tun es.« Und solange sie tun, was sie tun, in der Hoffnung, es irgendwann zu begreifen, wird die Veblendung bestehen bleiben. Sie beschwören den Herrn ihres Kultes, sich zu offenbaren, aber der schickt ihnen Bilder, in denen sie sich endlos spiegeln können. Auf manchen davon tragen sie, in der Hoffnung, sich nicht wiedererkennen zu müssen, ihre alten, abgelegten religiösen Kostüme.


ANMERKUNGEN:

1) Karl Marx, »Zur Kritik der Hegel‘schen Rechts-Philosophie. Einleitung«, in: Marx-Engels-Gesamtausgabe, 1. Abt., Bd. 2, S. 170

2) Christopher Hitchens, Der Herr ist kein Hirte. Wie Religion die Welt vergiftet, München 2007, S. 45

3) Karl Marx, »Zur Judenfrage«, in: Marx-Engels-Gesamtausgabe, 1. Abt., Bd. 2, S. 141-169; alle Zitate in diesem Absatz daraus.

4) Der Bürger mag zeitweise seines christlichen Opiums müde werden und dem Reiz des Neuen, den Designerdrogen des New Age, erliegen. Wenn es aber hart auf hart kommt und der Zweifel wirklich an ihm zu nagen beginnt, wird er sich in der Regel schon seines bewährten kirchlichen Dealers zu erinnern wissen. So blödsinnig die Einstiegsdrogentheorie ist, wenn es um Drogen geht, so stimmig ist sie in Bezug aufs Weihrauchwesen: Vom Kifferbuddhismus der Hippies führte ein gerader Weg zu den richtig harten Sachen. Man denke nur an den Islamfundamentalisten Hadayatullah Hübsch oder die protestantische Schmerzenstante Antje Vollmer.

5) Jean-Pierre Wils, Gotteslästerung. Frankfurt am Main u. Leipzig 2007, S. 34 u. öfter

6) Richard Dawkins, Der Gotteswahn, München 2007, S. 474

7) In Ländern wie den USA, die aus konstitutionellen Gründen keinen völkischen Mythos anzubieten haben, erfüllt sie allein wahrscheinlich die faschistischen Bedürfnisse irrationalisierter Massen; ein Grund mehr für den spezifischen US-Erfolg des evangelikalen Wahns, ein Grund weniger, sich im ethnisch parzellierten Europa erhaben zu fühlen.

8) Wo in früheren Zeiten es der Pfaffen bedurfte, mit dem Geschwätz von der Gottgegebenheit der Obrigkeit die Subalternen an die Kandare zu nehmen, demonstriert die abstrakte Herrschaft ihre Unantastbarkeit ganz von alleine, durch ihre schiere, ebenso ungreifbare wie unvermeidliche Existenz. So hat Gott ihr vorderhand wenig zu bieten.

9) Über den Fanatismus der Anderen wähnt man sich hierzulande erhaben durch die Bereitschaft, alles gleichermaßen zur Glaubens- und ergo zur Geschmackssache zu erklären. Alles geht: Ob Gottes- oder Wissenschaftsgläubigkeit, beides ist, so lautet die weit verbreitete Meinung, gleichermaßen zu respektieren und vor der dogmatischen Engstirnigkeit eines verstaubten Wahrheitsbegriffs in Schutz zu nehmen. Mit diesem Argument hat die hessische Kultusministerin die Behandlung des Kreationismus im Biologieunterricht vorschlagen können, und statt ausgelacht zu werden, stieß ihr Vorstoß auf breites Verständnis. Vgl. Verf., »Fröhliche Wissenschaft«, in: Konkret 8/2007

10) Navid Kermani, Der Schrecken Gottes. Attar, Hiob und die metaphysische Revolte, München 2005

11) Ebd., S. 37

12) Vgl. Dawkins, S. 493ff.

13) Alle Heine-Zitate nach Kermani, S. 36f. u. S. 264

14) Daniel C. Dennett, Den Bann brechen. Religion als natürliches Phänomen, Frankfurt am Main u. Leipzig 2008

15) Was ein gewichtiger Grund ist, warum die derart Gläubigen auf Heilandsverspottung oder Mohammedkarikaturen nicht mit selbstsicherer Gleichgültigkeit oder gar mit Mitleid für die Heillosen reagieren, sondern mit christlichem Gejammer und djihadistischem Furor. Es ist ihr eigener Zweifel, der ihnen da gegenübertritt und sie bis ins Mark erschüttert.

16) Ein ähnliches Phänomen zeigt sich hierzulande häufig im Umgang mit der eigenen Vergangenheit. Paradigmatisch etwa die Aussage des Schauspielers Matthias Schweighöfers, der im Film »Der Rote Baron« (D 2008) den titelgebenden Fliegerhelden des Ersten Weltkriegs spielt. Im Interview erklärt er seine Bewunderung für den Charakter mit den Worten: »Ich finde es heldenhaft, wie er sich für sein Land in den Tod stürzte. Ein Vorbild hat Charakterzüge, die man an sich vermisst – für mich zählen Mut und Kraft dazu. Mein Mut hat Grenzen« (Hörzu Nr. 14/2008, S. 18). Die nationalistische Propaganda, dass sich für Deutschland zu opfern ehrenvoll sei, wird durch das Eingeständnis, sich dafür nicht recht begeistern zu können, nicht etwa konterkariert, sondern unterstrichen. Genauso, wie der moderne Glaube leicht als besonders plumpe Form der Gotteslästerung erscheint, fällt es bei den hiesigen Ausbrüchen von Vernichtungswut immer schwer zu unterscheiden, ob es Nationalismus ist, was die Leute umtreibt, oder nicht doch eher die Unfähigkeit dazu. - Ich danke Antonia Schmid für den Hinweis auf das Schweighöfer-Zitat.

17) Vgl. Mona Nagger, »Hunger nach Unterhaltung«, taz v. 2./3. 10. 2008, S. 12

18) Vgl. Yael Navaro-Yashin, »The Market for Identities: Secularism, Islamism, Commodities«, in: Deniz Kandiyoti / Ayşe Saktanber (Hrsg.), Fragments of Culture. The Everyday of Modern Turkey, London u.a. 2002, S. 221-253

19) Man denke nur an Mel Gibsons berüchtigten antisemitischen Kreuzigungs-Sadomaso-Splatterfilm »Die Passion Christi«, der im übrigen, ganz Pseudoauthentizität, komplett auf Aramäisch gedreht wurde, ohne dass es seiner Verbreitung Abbruch getan hätte. Ich wurde einmal auf der Straße Zeuge, wie sich zwei typische Unterschichtsproblemkids folgenden bemerkenswerten Wortwechsel lieferten: »Ey Digger, ich hab die ‚Passion Christi‘ auf Video!« - »Ey geil Digger!« - »Ist aber mit spanischen Untertiteln.« - »Ey, macht nichts, Digger!«

20) Gesammelt sind diese in einem neu erschienenen Sammelband, der den Abgleich etwa der bekannten Abhandlung »Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern« mit bislang kaum zugänglichen Predigten ermöglicht: Friedrich Schleiermacher, Über die Religion. Schriften, Predigten, Briefe, hg. von Christian Albrecht, Frankfurt am Main u. Leipzig 2007 (alle folgenden Zitate aus diesem Band).

21) In: Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, Bd. 6, Frankfurt am Main 1985, S. 100-103 (alle folgenden Zitate hieraus)

22) In unmittelbarer Nachbarschaft der Speicherstadt baut der Hamburger Senat derzeit an seinem neuen Kultobjekt, der Hafencity, welche dem verschlafenen Provinznest endlich seinen sehnsüchtigsten Wunsch erfüllen soll: Weltstadt zu werden und Heerscharen zahlungskräftiger Touristen anzulocken. Der Glaube an die wundertätige Macht von Sternsschnuppen und Kleeblättern erscheint im Vergleich dazu als die reine Vernunft.

23) Von diesen Kulten gibt es zahlreiche Abwandlungen. Gemeinsam ist dabei allen, dass mimetisch die Begleitumstände reproduziert werden, unter denen – durch Schiffsunglücke oder Kriegsmanöver – erstmals Bekanntschaft mit der Zivilisation und ihren göttlichen Gütern geschlossen wurde. Vgl. dazu Hitchens, S. 192ff., und Dawkins, S. 283-90.

24) Vgl. etwa auch Marxens Beschreibung davon, dass sich der Wert als Mehrwert von sich abstoßen muss »wie Gott-Vater von Gott-Sohn«, um sich als Wert zu erhalten.


« Zurück