Roll Over Adorno?
Kleine Musikgeschichte des Fordismus (Teil 2)
Exkurs: E-Musik als Selbstkritik der Arbeit (Durchführung)
Der Jazz ist Ware im strikten Sinn
Theodor W. Adorno (Über Jazz, 1936)
Von der Autonomie der Kunstwerke [...] ist nichts übrig als der Fetischcharakter der Ware [...].
Theodor W. Adorno (Ästhetische Theorie, 1970)
Romantischen wie frühsozialistischen Denkern galt das Komponieren als eine Form, wenn nicht Inbegriff von nicht-entfremdeter Arbeit. Noch 1857/58 fällt Marx nur das Komponieren ein, um den Arbeitsbegriff zu retten, »wirklich freie Arbeiten« beim Namen zu nennen - als »travail attractif, Selbstverwirklichung des Individuums«1. Der romantische Entfremdungsbegriff verdeckte jedoch seinerseits, was in der musikalischen Klassik vor sich ging: nicht um eine von Entfremdung erlöste Arbeit handelte es sich, sondern um die Kritik der Arbeit - als Arbeit.
So kommt der musiktheoretische Terminus von der »thematischen Arbeit« für die durchführungsartigen Teile der Sonaten und Symphonien eben nicht von ungefähr: Komponieren ist eine höherer Form von Arbeit: doch Höhe meint hier nichts anderes als eine Distanz, die Selbstreflexion ermöglicht.
Als eine Kunst, die mehr als jede andere davon lebt, die Zeit zu organisieren, steht die Musik in einem besonderen Verhältnis zur abstrakten Arbeit - zur Abstraktion, die der Wert an den verschiedenen Formen der konkreten Arbeit vornimmt, um sie auf den gemeinsamen Nenner der durchschnittlich notwendigen Arbeitszeit zu bringen. Die Arbeit bezweckt ein genaues, überprüfbares und wiederholbares Resultat des Arbeitsvorganges (nur dann kann der Mehrwert auch realisiert werden, der in der Ware steckt). Auch der Ausgangspunkt der klassischen Komposition ist die Wiederholung - im Kleinen (die regelmäßige Schlagzeit: der Beat; der Tonika-Dreiklang) wie im Großen (die Form der Reprise). Sie bildet den Rahmen, in dem die Musik ihre Arbeit tut. »Das Wiederholungsmoment im Spiel ist« - so Adorno - »das Nachbild unfreier Arbeit [....]«.2
Die Komponisten, soweit sie Künstler sind und keine Handwerker, entwickeln jedoch ihre ganze Kunst nicht in der Realisierung der Wiederholung, sondern in der Abweichung von ihr. Im Unterschied zum Off-Beat des Jazz lassen diese Abweichungen sich allerdings auf keinen Nenner bringen, nur auf den Begriff des Kunstwerks: denn jedes ästhetisch geglückte Musikstück beruht auf der Einzigartigkeit der Abweichung vom Formschema; und jede Aufführung desselben auf der Einzigartigkeit der Interpretation. Allerdings schießt auch die gewöhnliche Arbeit stets über ihr Ziel hinaus - nur will sie es im Unterschied zur Kunst nicht wahrhaben, weil dieser konkrete Überschuss (anders als der abstrakte) eben nicht die Form des Wertes annehmen kann, sondern eher die einer sozialen oder ökologischen Krise. In der ästhetischen Produktion indessen wird dieser Überschuss, das Eintreten des Nicht-Gewollten, nicht als Krise, sondern als Genuss erfahren.
Bei Wagner schon nimmt die Arbeit der Musik, Adorno zufolge, »den Charakter des kreisend Vergeblichen, schlecht Zwanghaften an. Wagner hat damit etwas über das Wesen der Durchführung selber ausgemacht d.h. ihr wohnt objektiv-musikalisch die gleiche Vergeblichkeit schon inne, die er dann explizit gemacht hat. Das hängt aber mit dem gesellschaftlichen Wesen der Arbeit zusammen, die gleichzeitig ‚produktiv' ist, die Gesellschaft am Leben erhält, und in ihrer Blindheit doch vergeblich bleibt, auf der Stelle sich bewegt [...]. Wenn in der Veränderung des Durchführungsprinzips von Beethoven zu Wagner eine gesamtbürgerliche Entwicklungstendenz sich niederschlägt, so zeigt aber die spätere Phase zugleich etwas über die frühere an, nämlich die immanente Unmöglichkeit der Durchführung, die nur momentan, paradox gelingen kann.«3
Adorno hat es sich - zum Leidwesen Schönbergs - auch nicht nehmen lassen, diese Analogie für die Zwölftontechnik fortzuführen. Und es ist auch dies keine oberflächliche Analogie, denn sie betrifft die »wachsende organische Zusammensetzung des Individuums«: »Das, wodurch die Subjekte in sich selber als Produktionsmittel und nicht als lebende Zwecke bestimmt sind, steigt wie der Anteil der Maschinen gegenüber dem variablen Kapital.«4 Diese Erkenntnis aus den Minima Moralia hat Adorno in seiner Philosophie der neuen Musik für die Zweite Wiener Schule ausbuchstabiert: Es wächst demnach auch die organische Zusammensetzung der Komposition an - das, wodurch sie in sich selber als Kompositionsmittel und nicht als Zweck bestimmt ist - die Logik eines Tonsystems - steigt wie der Anteil der Maschinen gegenüber dem variablen Kapital; die Zwölftontechnik markiert dabei die höchste bis dahin erreichte organische Zusammensetzung der Musik. »Die Verwandlung der ausdruckstragenden Elemente von Musik in Material, welche Schönberg zufolge durch die ganze Geschichte von Musik hindurch unablässig statthat, ist heute so radikal geworden, daß sie die Möglichkeit von Ausdruck selber in Frage stellt. [...] Es ist [...] das unterdrückende Moment der Naturbeherrschung, das umschlagend gegen die subjektive Autonomie selber sich wendet, in deren Namen die Naturbeherrschung vollzogen ward [...]. Stimmigkeit als ein mathematisches Aufgehen setzt sich an die Stelle dessen, was der traditionellen Kunst ‚Idee' hieß [...]. Die neue Ordnung der Zwölftontechnik löscht virtuell das Subjekt aus.«5 Paradoxerweise gelangte die Zweite Wiener Schule zu dieser ‚Automation' des Komponierens auf der ständigen Flucht vor der Wiederholung - vor jenem musikalischen Prinzip, das die Musik mit der Arbeit eigentlich teilt und das bereits für die Wiener Klassik der Stachel war.
Je offener und konsequenter die Musik die allgemeine Entwicklung in sich austrug, desto mehr konnte sie - in Adornos Auffassung - als Einspruch gegen sie verstanden werden. Als Indiz für die Widerstandshaltung der neuen Musik gilt gerade deren elitärer Charakter - das Ausbleiben des Publikums. Damit die Musik die allgemeine Entwicklung nicht einfach widerspiegelt und verdoppelt, muss Adorno die Kunstautonomie ins Extrem treiben und mit geradezu religiöser Bedeutung aufladen. Die neue Musik allein »entwirft das Bild der totalen Repression und nicht deren Ideologie. Als unversöhntes Bild der Realität wird sie dieser inkommensurabel [...]. Alle Dunkelheit und Schuld der Welt hat sie auf sich genommen.«6 Tatsächlich leeren sich die Konzertsäle - nicht unähnlich den Kirchen - wenn die Vertreter der Zweiten Wiener Schule ihre Arbeiten vorführen, die den Tanz- und Unterhaltungscharakter, den die Klassik stets noch mit dem der Arbeit auf angenehme Weise zu verbinden wusste, völlig abgestreift haben. (Wollten sie einen Publikumserfolg zwecks Geldbeschaffung erzielen, dann bearbeiteten Schönberg, Berg und Webern die Walzer von Johann Strauss!) Das Publikum flüchtete im Übrigen in die Freizeit: zu Jazz und Pop, wo wiederum zugunsten des Tanz- und Unterhaltungscharakters auf thematische Arbeit so gut wie vollständig verzichtet wurde.
Im Vergleich zur Zweiten Wiener Schule mag die Selbstkritik der Arbeit in der postseriellen ‚Avantgarde'-Musik durchwegs als Trivialisierung erscheinen, doch wird sie gerade auf diese Weise konsequent zu Ende geführt. Und am Ende steht die vollkommene Aushöhlung der Kunstautonomie, wie sie in einem Musikstück von John Cage, einem Schüler Schönbergs, unnachahmlich zum Ausdruck kommt. Es trägt seine Zeitdauer als Titel - 4'33 -, und besitzt auch sonst alles, was zu einem Werk gehört: ein veröffentlichter ‚Notentext', Besetzungs- und Vortragsangaben und die Aufgliederung in drei Sätze - nur dass in diesen Sätzen der Interpret nichts tut: Das Werk besteht aus drei Generalpausen. Es ist wie ein Witz, den sich die Musik über ihre eigene Geschichte erzählt. (Allerdings ist es kein neuer Witz - Erwin Schulhoff erzählte ihn unter dem Einfluss des Dadaismus schon Jahre zuvor.)
Neben dieser wirklichen Vollendung der Musikgeschichte zeigt sich auch bei anderen Komponisten und Werken der Avantgarde, dass sich der Klang insofern von Tonsystemen emanzipiert hat, als er das Geräusch - das bei Cage wie unabsichtlich erklingt (Straßenlärm, Geräusche aus dem Publikum) - in den Konzertsaal oder ins Studio einspielt, so dass jeder Zuhörer - und sei er noch so banausisch, ja gerade dann - begreifen kann, was auch dem Museumsbesucher bei einem Artefakt von Joseph Beuys schlagartig klar werden muss: hier wird ein Ding präsentiert, das ganz ohne Arbeit entstanden ist, also keinen Wert hat und doch den höchsten Preis erzielt. »Bewußtsein durchschaut das Beschränkte des schrankenlos sich selbst genügenden Fortgangs als Illusion des absoluten Subjekts«, schrieb Adorno in der Fragment gebliebenen Ästhetischen Theorie:
»[G]esellschaftliche Arbeit spottet ästhetisch des bürgerlichen Pathos, nachdem die Überflüssigkeit der Arbeit real in Reichweite kam. Einhalt gebietet der Dynamik der Kunstwerke sowohl die Hoffnung auf die Abschaffung von Arbeit wie die Drohung des Kältetods; beides meldet objektiv in ihr sich an; von sich aus kann sie nicht wählen.«7
Beat und Off-Beat II: Rock (Reprise)
Als die amerikanische Autoproduktion in den fünfziger Jahren mit neuen, stromlinienförmigen Modellen einen beachtlichen Wachstumsschub initiierte (die Zahl der registrierten Fahrzeuge etwa stieg in den USA zwischen 1950 und 1960 um mehr als 20 Millionen auf 61,5 Millionen, also um die Hälfte, an), eroberte auch die Schallplattenproduktion mit der Erfindung der Kunststoff- (1948) und Stereoschallplatte (1958), vor allem aber mit der neuen Musikform des Rock'n'Roll, Märkte von ungeahnter und für den Jazz unerreichbarer Größe. Denn der Rock'n'Roll gewann eine neue Käufergeneration, und es gelang mit ihm, das Bedürfnis nach Musik ganz mit dem nach der Schallplatte zu verschweißen - die Juke-Box, die Sänger und Kapellen in den Tanzlokalen ablöste, bildete gleichsam diese Schweißnaht. Getragen von der expandierenden Schallplatten-Industrie entwickelte sich die neue, aus Elementen des Jazz abgeleitete Musikform mit unglaublichem Tempo zu einem weltweiten Idiom der Jugend, schneller hatte bis dahin noch keine Musik die Welt erobert.
Mit dem Jazz teilt der Rock den Off-Beat und den Synkopenreichtum, mehr noch als der Swing drängt er die freie Improvisation zurück und verlässt sich auf festgelegte Arrangements (mit riff-
artiger Melodiebildung) - besonders deutlich bei den ersten Heroen des Rock'n'Roll Bill Haley, Elvis Presley, Little Richard etc. (Eigentlich war der Anstoß mit Rhythm & Blues wiederum vom städtischen Milieu der schwarzen amerikanischen Bevölkerung ausgegangen - unter dem Markenzeichen Rock'n'Roll wurden diese Spuren dann beseitigt.) An die Stelle von Chromatik, modalen Skalen und rhythmischer Vielfalt, die der Jazz im Spannungsfeld zwischen Beat und Off-beat mitunter entwickeln konnte, regrediert die Rockmusik auf das Maß des herkömmlichen Strophenlieds mit der harmonischen Basis einfacher Grundakkorde und manchen Anklängen an Pentatonik. Während der Jazz mit seinen Improvisationen und Chorussen vorwiegend variativ verfuhr (Thema mit Verarbeitung als vorherrschender Ablauf), zieht sich die Rockmusik weitgehend auf Repetition (Strophenform) zurück.
Nun nach dem Ende des Nationalsozialismus konnte die poppige Synkope auch in Österreich und Deutschland wirklich boomen. Für die von der Marschmusik offenbar bis ans Lebensende geprägten Angehörigen der älteren Generation blieb mit gutem Grund alles was nach Off-Beat roch, sei es nun Mick Jagger oder Pink Floyd »Jazzmusik«, worin man selbstverständlich den Untergang jenes Abendlandes erblickte, das man einst mit Marschmusik zu verteidigen dachte. Für jene Übergangs-Generation, die sich gleichsam am Scheitelpunkt von Marsch- und Rockmusik befand, hat Johannes Hodek rückblickend die Subjektivität treffend charakterisiert: »Unsterblich haben sich diese [Nazi-Marsch-]Lieder in die Herzen der Nachkriegsgeneration gegraben. Obwohl ich die Schlager- und Rock'n'Roll-Kultur der fünfziger Jahre in Tanzkapellen singen und spielend miterlebt habe ... - nie vergesse ich ein Lied wie dieses: ‚Wer nur den lieben Tag, ohne Plag ohne Arbeit vertändelt, wer das mag, der gehört nicht zu uns. Wir steh'n des Morgens zeitig auf, hurtig mit der Sonne Lauf sind wir, wenn der Abend naht, nach getaner Tat eine muntere, fürwahr, eine fröhliche Schar.'«8 Den jungen Arbeitern des Wirtschaftswunders und den neuen Soldaten von freedom and democracy vermittelten indes Bill Haley und Elvis Presley, später die Beatles und die Rolling Stones, ‚nach getaner Tat' einen nicht weniger munteren Freizeit-Körper, der besonders in deutschsprachigen Landen von einer geradezu atemberaubenden Neuheit war und in den man etwa schlüpfen konnte, um den Konflikt mit dem marschsüchtigen Vater auszutragen.
Es war die Revolte als Freizeit, oder die Freizeit als Revolte. Wie die Freizeit nur die andere Seite der Arbeit ist, so ist auch das Freiheitsgefühl, das die Synkope vermittelt, an das permanente Bewusstsein der regelmäßigen Schlagzeit geknüpft: wer sich am Abend und am Wochenende in der Band oder auf der Tanzfläche austobt, hat ständig im Hinterkopf, dass er am nächsten Tag wieder am Fließband steht oder in der Kaserne exerziert - und dieses Wissen ist in der Musik selbst anwesend in Gestalt des niemals fallengelassenen Beat. Worin die Rockmusik sich zuallererst vom Jazz unterscheidet, ist nun gerade die stärkere Akzentuierung des Beat - man sprach darum Mitte der sechziger Jahre ganz richtig von Beatmusik, und die berühmteste Rockgruppe dieser Jahre hieß nicht umsonst Beatles. Der Beat ist im Rock vordergründig vorhanden und spürbar, ja aufdringlich einhämmernd (der Hardrock der siebziger Jahre und später der Punk spezialisieren sich geradezu darauf). Die Betonung des Beats macht das spezifisch rockige aus, während der Reiz des Jazz - und darin vielleicht doch noch eine gewisse Nähe zu afrikanischen Musikformen?9 - darin bestand, den Beat zu überspielen oder eher diskret anzudeuten. Durch die Betonung des Beats kam jedoch eine neue Spannung in die Musik, eine rhythmische Steigerung, da doch nun der Off-Beat ebenfalls verstärkt werden musste. Die Musik wurde aggressiver, wozu nicht zuletzt auch die elektronischen Möglichkeiten der Verstärkung beitragen konnten; sie verlor den Grundcharakter der Entspannung, der federnden Elastizität, des relaxing. Es scheint, als hätte die Rockmusik sich in unbewusster Weise den Marschrhythmus einverleibt - im Unterschied zum Jazz die direkte Konfrontation mit ihm gesucht.
Selten allerdings erreicht diese Konfrontation eine gewisse Bewusstheit wie bei Bob Dylan oder Jimi Hendrix. Dylans »Hurricane« von 1975 - die Rock-Ballade über den schwarzen Boxer Rubin Carter »The man the authorities came to blame / For somethin' that he never done« - akzentuiert den Beat mit derselben Aggressivität, mit dem sie den Staat zur Sprache bringt. Die Illusionen über die rassistischen Grundlagen des Staats - die Hoffnung gleichsam auf Urlaub vom Staat -, die im Text in der Forderung nach Rehabilitation zum Ausdruck kommen, werden vom Beat und von der Strophenstruktur mit ihrer permanenten Wiederholung Lügen gestraft - doch diese Lüge selbst wird nicht bewusst. Es sei denn in der Ironie, die Bob Dylan in seine Stimme legt - oder in dem Hass, mit dem er »all the criminals in their coats and their ties« besingt - verdoppelt noch durch die manchmal geradezu kontrapunktisch geführte Violine von Scarlet Rivera. In anderen Songs hat Dylan gerade umgekehrt das Relaxing des Jazz, das im Rock weitgehend verloren ging, in seiner Stimme aufbewahrt. Bei »Tangled up in blue«, wo dies der Fall ist, wird jedoch der Beat mit den in jeder Strophe wiederkehrenden Worten des Titels - die ungefähr mit »In Trübsal verwickelt« übersetzt werden können - förmlich synchronisiert. Und mit diesem Beat am Ende jeder Strophe wird die Freiheit, die das Subjekt sich in den einzelnen Strophen als Vagabund in den Nischen der fordistischen Arbeitsgesellschaft erringt, jedes Mal aufs Neue niedergeschlagen.
Auch dies unterscheidet die Pop-Musik vom Jazz: sie legt Wert auf diskursiven Inhalt und mehr noch auf dessen Ausdruck durch die menschliche Stimme, während der Jazz überwiegend instrumental bestimmt blieb und seine Freizeit-Botschaft gleichsam verschlüsselt oder heimlich transportierte. Tatsächlich eröffnet die Verstärker-Technik hier Möglichkeiten, die dem klassischen Gesang eigentlich immer verschlossen geblieben waren.
Was Bob Dylan mit seiner vielgestaltigen Stimme erreichte, gelang Jimi Hendrix mit virtuosen Improvisationen auf der E-Gitarre: das repetitive Schema der Rockmusik aufzusprengen und ihr damit zu ganz neuen Ausdrucksqualitäten zu verhelfen. Verglichen mit Dylan, der durch seine Anlehnung an den Country- und Talking-Blues im Musikalischen beinahe Anachronismen produzierte, war Jimi Hendrix - wie Lothar Trampert festhält - »in Bezug auf seine musikalischen Mittel und deren künstlerische Ergebnisse ungleich konsequenter. Er spielte eine freiere, härtere und elektrisierendere Variante des Blues als alle Musiker vor ihm«10. Auch Hendrix suchte die bewusste Konfrontation mit dem Staat, als er sich - etwa in Woodstock - die amerikanische Bundeshymne vornahm - um schließlich ebenfalls mit Tangled up in blue zu enden: er zerfetzt - so Achim Sonderhoff - »die Nationalhymne in elektronische Splitter, macht aus ihr einen apokalyptischen Abgesang auf den American way of life, um dann in eine unglaublich traurige Melodie zu gleiten, einen Abgesang auf die sechziger Jahre, die zwar Ansätze gebracht haben, die aber niedergeknüppelt wurden«11. Im Studio spielte Hendrix eine wesentlich ironischer getönte Fassung ein: »Allein mit klanglichen Mitteln entlarvt Hendrix hier, indem er sowohl Erinnerungen an schottische Dudelsackmusik als auch - mit Hilfe seiner Anschlagtechnik - an ein Mandolinenorchester weckt, das aufdringliche Pathos der Melodie und reduziert diese auf eine zuckersüße Nationalhymne für Disneyland.«12
Rap (Coda)
In der Pop-Musik wuchs die organische Zusammensetzung des Individuums bedeutend rascher. Der Pop wiederholt gleichsam im Zeitraffer die Entwicklung der bürgerlichen Kultur: Eröffnete die Technik zunächst neue Möglichkeiten der Individualisierung, so werden sie im Rap wieder kassiert. Das freie Singen, das sich in der Spannung zwischen Beat und Off-Beat entfalten konnte, wird auf ein monotones, schnelles und abgehacktes Beat-Sprechen reduziert, das so etwas wie einen Off-Beat fast nur noch in winzigen rhythmischen Betonungen erkennen lässt; das parodistische Moment, das der Rock mitunter vom Jazz übernommen hatte, wird auf bloßes Recycling heruntergeschraubt (dem Sampling fehlt die Ironie). Der monotone Sprechgesang (Rap heißt schwätzen) resultiert in gewisser Weise aus dem Prinzip der Beschleunigung und Vervielfachung: es gilt, möglichst viel Textmasse in den Song einzuspeichern. In Jamaika, wo eine der Wurzeln des Rap liegt, kam der neue Stil der DJs von fliegenden Händlern, die neue Reggaeplatten anpriesen und ihre Sprechweise der Musik der verkauften Platten anpassten. Andererseits wurde immer wieder die Nähe des Rap zum Fernsehen und insbesondere zum Werbefernsehen hervorgehoben. So sind die zahlreichen Markennamen bezeichnend, die sich in Rap-Texten ebenso wie in auf den Kleidern der Rapper finden.13
Allein die Aufblähung der Musik mit Textmaterial schwächt die Beat-Off-Beat-Spannung beträchtlich und macht das Aussingen einer Melodie unmöglich. Diese erscheint zusammen mit der althergebrachten synkopierten Musik eher im Hintergrund oder zwischen den gerappten Passagen. Dabei zeigt sich oftmals eine neue musikalische Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern (die sich übrigens auch in der Kleidermode niedergeschlagen hat): die Männer rappen im Vordergrund, die Frauen singen im Hintergrund.14 (Der Rock der sechziger und siebziger Jahre hatte die Geschlechter in Ausdruck und Kleidung eher einander angenähert - Mick Jagger suchte Mann und Frau in einer Person zu vereinigen. Freilich ist es kein Zufall, dass die meisten Stars dennoch Männer waren.)
Wieder ging der Impuls von der schwarzen Bevölkerung Amerikas aus. Mit den afrikanischen Ursprüngen, die vom Rap im Sinne von »Nation of Islam« mitunter beschworen werden, hat die Eigenart dieser neuen Musikform noch weniger zu tun als der Jazz oder der Rhythm & Blues. Wenn die hier entwickelte Theorie des Off-Beat stimmt, dann deutet sich in der Abschwächung der Off-Beat-Spannung vielmehr ein insgesamt verändertes Verhältnis von Arbeit und Freizeit, Staat und Individuum an - dann läutet der Rap das Ende des Fordismus ein. Die Zeit ist nicht mehr zerrissen in Freizeit und Arbeit - sie ist flexibilisiert. Während in der »Disziplinargesellschaft« des Fordismus Arbeit und Erholung strikt getrennt waren, sieht Arbeit - so Tom Holert und Mark Terkessidis - »heute aus wie Freizeit und Freizeit wie Arbeit. Im Unternehmen schuften die Mitarbeiter, als ginge es um ihr persönliches Vergnügen, und in der Freizeit vergnügen sie sich, als ginge es ums Schuften.«15
Die Tanzbewegung gewinnt im HipHop eine neue selbständige Bedeutung - zusammen mit der für diese Musik zentralen Videotechnik. Auch hier scheint - wie Annette Weber andeutet - die Grenze zwischen Arbeit und Freizeit zu schwinden: »Der Körper wird zur Sportmaschine und erzeugt das Produkt Tanz [...]. Die permanente Körperkontrolle wird jedoch nicht mehr als Disziplinierung erfahren. Die Arbeit am Körper - die erhöhte gesellschaftliche Anpassungsleistung und freiwillige Leistungssteigerung - ist nicht als Tribut an eine veränderte, dynamischere, flexiblere Kontrollgesellschaft erkennbar. Das Lustprinzip wird nicht mehr von einem Realitätsprinzip begrenzt, das Lustprinzip bringt die Kontrolle selbst hervor.«16 Damit vermag sich auch der Staat auf neue Weise im Individuum festzusetzen - nicht als autoritäre Disziplin, die vom Marschrhythmus geschult wird, sondern als individuelle Motiviertheit und pfeilschnelles Agieren, wie der nationale Wettbewerbsstaat es erfordert: eine flexibilisierte Volksgemeinschaft. Die Ästhetik der HipHop-Videoclips erinnert eben nicht allein an Aerobic-Kurse, sie suggeriert auch Fitness-Training für den Banden- und Bürgerkrieg. Der Jargon des Rap bietet dazu Einführungskurse: Burn heißt einen Rivalen bei Tanz und Musik auszustechen; Gangsterism die möglichst glaubwürdige Darstellung von Gangster-Attitüden; auffällig die vielen Bezeichnungen für eine Gruppe: Posse z.B. leitet sich ab von einer Gruppe im amerikanischen ‚Wilden Westen', die sich zur Selbstjustiz formiert. Nicht wenige rassistische Textstellen deuten an, dass dieser Krieg im Stil der jüngsten Auseinandersetzungen in Jugoslawien ausgetragen werden könnte.
Doch dieser Essay soll nicht kulturpessimistisch schließen; dann schon lieber mit der Banalität, dass niemand weiß, wie die Zukunft wirklich aussehen wird. Das Ende der Pop-Musik jedenfalls, das der Rap ausplaudert, lässt sich wie jenes der ernsten Musik, über das schon John Cage schmunzelte, nicht rückgängig machen, so lange es sich auch hinziehen mag. Eine wirklich neue Musik kann es nur noch jenseits des Fetisch-Systems von U- und E-Musik, Beat und Off-Beat, geben. Und solange diese Schwelle nicht überschritten ist, bleibt jenes Spannungsverhältnis in Kraft, in dem sich Adorno immerzu bewegte: »Es gibt kein richtiges Leben im Falschen«, heißt es 1944 in den Minima Moralia, die sich aber bereits ein Jahr später - mit dem ganzen Wissen über den Nationalsozialismus - das Motto (von F. H. Bradley) gegeben haben: »Where everything is bad / it must be good / to know the worst«.
ANMERKUNGEN:
1) Karl Marx: Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, Berlin 1974, S. 505.
2) Th. W. Adorno: Ästhetische Theorie, Frankfurt a.M. 1970, S. 471.
3) Ders.: Beethoven, Frankfurt a.M. 1993, S.62ff.
4) Ders.: Minima Moralia, Frankfurt a.M. 1980, S. 307.
5) Ders.: Philosophie der neuen Musik, Frankfurt a.M. 1974, S. 24, 62f., 66.
6) Ebd., S.103, 109.
7) Ders.: Ästhetische Theorie, Frankfurt a.M. 1970, S. 333.
8) Johannes Hodek: Musik und Musikpolitik im faschistischen Deutschland, Frankfurt a.M. 1984, S. 24.
9) Siehe dazu den ersten Teil dieser Veröffentlichung in Extrablatt Nr. 3.
10) Lothar Trampert: Elektrisch! Jimi Hendrix, München 1994, S.194.
11) Zit.n. ebd., S.220.
12) ebd.
13) Vgl. David Dufresne: Rap Revolution, Zürich-Mainz 1997, S. 19.
14) Günter Jacob registriert seit 1996 die Tendenz, dass Männer noch dominanter geworden sind: »Die populären Rapperinnen lassen sich mittlerweile fast an einer Hand abzählen. Junge Künstlerinnen sind längst zum Soul, Swing und R&B abgewandert, weil sie dort vielfältigere Selbstdarstellungsmöglichkeiten haben. In den heute tonangebenden Teilen des HipHop wird, jedenfalls wenn man sich an den Verkaufszahlen orientiert, vor allem der Konkurrenzkampf auf Kosten noch Schwächerer propagiert (Vgl. Günter Jacob: Retrospektive. In: David Dufresne: Rap Revolution, Zürich-Mainz 1997, S. 364).
15) Tom Holert/Mark Terkessidis: Mainstream der Minderheiten, Berlin-Amsterdam 1996, S. 15.
16) Annette Weber in: ebd., S. 53.
Teil 1 (in: Extrablatt Nr. 3) und dieser Teil des Textes sind erstmalig in Weg und Ziel (1997, H.5) erschienen.
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