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Mai, 2019:
Ausgabe #10 ist erschienen

Moritz Strickert und Volker Beeck

Geborgen, verbunden, artgerecht

Zur Kritik des Attachment Parenting

 

»Attachment Parenting« (AP) und dessen deutsche Entsprechungen »geborgenes Aufwachsen« und »bindungsorientierte Elternschaft« stellen eine immer beliebtere Zusammenstellung von Erziehungsmethoden dar, die sich an Überlegungen des US-amerikanischen Kinderarztes William Sears orientieren. Dieser evangelikale Christ entwickelte AP in den 1980er Jahren und popularisierte es im Anschluss. In den USA ist diese Art der Kindererziehung mittlerweile äußerst beliebt. Während sich dort bereits das Time Magazine oder die New York Times damit beschäftigen und darüber diskutieren, ist es innerhalb Deutschlands bislang medial eher ein Phänomen von Blogs, die jedoch mitunter laut eigener Aussage fast eine halbe Millionen Seitenaufrufe im Monat erreichen können.1 In der Praxis dient das AP, zumindest in bestimmten Milieus, als Leitfaden der Kindererziehung. Im Jahre 2014 übernahm Familienministerin Manuela Schwesig die Schirmherrschaft für den deutschen »Attachment Parenting Kongress«. Während in den USA das AP durchaus in klassisch konservativen Kreisen wie dem evangelikalen Christentum Verbreitung findet, sind es in Europa eher akademisch ausgebildete und alternativ geprägte Personen, die sich dem AP zuwenden.2

Außerhalb Deutschlands wird AP bereits einer feministischen Kritik unterzogen – häufig jedoch beschränkt auf einen moralischen Duktus –, die moniert, dass AP auf eine elitäre Abgrenzung gegenüber anderen Erziehungsstilen und den damit verbundenen Distinktionsgewinn abziele. Zugleich wird zurecht die Menge an Empfehlungen und Vorschriften kritisiert, da diese Frauen so verunmöglichten, an der Welt zu partizipieren, und sie mit heteronomen Zuschreibungen einengten.3 AP erzeuge ein permanentes schlechtes Gewissen und eine Angst vorm Scheitern, insbesondere durch die Überbetonung der Schäden, die dem Kind pränatal und in der frühen postnatalen Phase für sein ganzes Leben zugefügt werden könnten. Der Rekurs auf einen vermeintlich natürlichen Mutterinstinkt samt dazugehörigem Verhalten stehe Konzepten von gleichberechtigter und gemeinsam geteilter Elternschaft im Wege.4 Im Folgenden wird eine andere Perspektive eingenommen: Die zentralen Praktiken des AP: Tragen, Stillen und Familienbett werden ideologiekritisch betrachtet. Hierbei wird ein Fokus auf das Frauen- und Familienbild des AP gerichtet.

Tragen, Stillen, Familienbett

Für das AP spielt Bindung eine grundlegende Rolle. Was diese zum Kind ausmache, wird nie genau erklärt, sondern es bleibt bei der Anrufung eines vagen subjektiven Gefühls, welches aber besonders stark und sehr bedeutsam sei. »Leicht werden die sogenannten Bindungen entweder zum Gesinnungspaß – man nimmt sie an, um sich als zuverlässiger Bürger auszuweisen – oder sie produzieren gehässige Rancune, psychologisch das Gegenteil dessen, wofür sie aufgeboten werden. Sie bedeuten Heteronomie, ein sich abhängig machen von Normen, die sich nicht vor der eigenen Vernunft des Individuums verantworten.«5 Solche Effekte zeitigt auch die problematische Betonung der Bindung im AP.

Eine enge und stabile Bindung soll zwischen Mutter und Kind, bestenfalls schon vor der Geburt und im besonderen Maße danach, vermittelt über die drei Basiskomponenten des AP: Stillen, gemeinsames Schlafen im Familienbett und das enge Tragen des Kindes am Körper erreicht werden. Die zentrale Idee ist, dass die weitere Entwicklung des Kindes wesentlich durch eine gelungene intensive Bindung zwischen Kind und primärer Bezugsperson (im AP ist dies gleichbedeutend mit der Mutter) positiv beeinflusst wird. So wird davor gewarnt, dass regelmäßige längere Trennungen die Beziehung zwischen Mutter und Kind stören könnten, was zu einer dauerhaften Schädigung der emotionalen und psychischen Entwicklung des Kindes führen könne. Jene wird in Anschlag gebracht gegen eine als feindlich begriffene Außenwelt, die als permanente Störquelle für das Wohl des Kindes und die fragile Bindung zwischen Eltern und Kind erscheint.

AP liefere hingegen Hilfestellungen, um sich »auf das Wesentliche im Leben [zu] konzentrieren […]: dein(e) Kind(er)«.6 AP umfasst u. a. folgende Appelle an die Eltern: »Füttere dein Baby mit Liebe und Respekt«, »Antworte mit Einfühlungsvermögen« oder »Biete ihm beständige und liebevolle Zuwendung«.7

»Attachment ist ein spezielles Band zwischen Eltern und Kind; ein Gefühl, dass Sie wie ein Magnet zu Ihrem Kind zieht; eine Beziehung, die, wenn sie ganz tief empfunden wird, die Mutter fühlen lässt, dass das Baby ein Teil von ihr ist. Dieses Gefühl ist so stark, dass, zumindest in den ersten Monaten die ›verbundene‹ Mutter sich komplett fühlt, solange das Baby bei ihr ist und sie fühlt sich unvollständig, wenn sie voneinander getrennt sind.«8 Neben der Bindung sei das subjektive Gefühl, im Besonderen das der Mutter, zentral und erfährt eine schillernde Aufwertung als sakrosankt. »Vertraue alleine auf dein Gefühl und es wird sich schon alles zu Besten fügen« – dies ist jedoch keine Entlastung, sondern eine extrem autoritäre Aufforderung an die Mutter, mit der etwas nicht stimmen kann, wenn sie diese Gefühle nicht in sich spürt. So kann das AP eine Getriebenheit der Mütter erzeugen, die sich ständig befragen müssen, ob sie die »natürlichen mütterlichen« Gefühle auch spüren. Im AP werden diese Gefühle beständig romantisch verbrämt.

Charlotte Faircloth zitiert in ihrer Studie über »Attachment Parenting« und »Intensive Motherhood« eine Aktivistin der Londoner »La Leche League«, einer Lobbyorganisation langzeit-stillender Mütter: »I am an academic by trade and a mother by vocation …. I have known for a long time that bodies are representations, performing elaborate rituals of signification even in their most intimate moments, what I came to know from breastfeeding my daughter is that these ritual performances originate in flesh that is overdetermined but still miraculous.«9 Diese Rede von mythischen Erfahrungen und Wundern, dem Muttersein als Berufung, die letztlich nur erfahren und nicht begriffen werden könnte, zeigt den esoterischen Charakter des AP: Es bedarf nur der Bindung und des Stillens zur Offenbarung des eigenen inneren Wesens als Frau und – was hier das gleiche ist – Mutter.

Zugleich wohnt dem AP ein sektiererisches Moment inne, wenn sich seine Vertreter_innen, die diese Methode ernsthaft praktisch betreiben, in ihre Kleinfamilie und Zirkel von eingeweihten Eltern zurückziehen. Faircloth zitiert ein anderes Mitglied der Londoner »La Leche League«, die ihren Eintritt in die AP-Gemeinde folgendermaßen beschreibt: »And the pressure from other people to go away and leave my baby was very great. So it was sort of like coming home [Herv. i.Orig]. This thing about the mother and baby attachment made sense to me, in a way that nothing really had before.«10

Die Hauptkomponenten des AP sollen helfen, eine möglichst enge Bindung zwischen Mutter und Kind zu erreichen. In diesem Zusammenhang taucht unter anderem das Argument auf, dass das beim Stillen freigesetzte Hormon Prolaktin die »mütterlichen Fähigkeiten« stärke.11 Immer wieder greifen AP-Vertreter_innen auf biologische Argumentationsfiguren zurück, um die Evidenz ihrer Position zu unterstreichen. Solcher Art Rückgriffe auf die Biologie sind durch Eklektizismus und das Lösen der Fakten aus ihrem Kontext, um sie dem eigenen Programm einzupassen, gekennzeichnet. Beides verleiht dem AP einen pseudowissenschaftlichen Charakter. Charlotte Faircloth beschreibt dieses Vorgehen so: »As noted, it is ironic that the women here use science as one of their accountability strategies, since many attachment parenting advocates are openly sceptical about scientific knowledge.«12

Der Sprachduktus der AP-Vertreter_innen pendelt zwischen Kitsch auf der einen Seite, wenn permanent von Kindern als Geschenk gesprochen oder Mutterglück und -liebe salbungsvoll als Wunder verklärt werden, und Alarmismus auf der anderen Seite, wie der Warnung vor möglichen Störungen der Bindung zwischen Eltern und Kind und deren vermeintlich verheerenden Folgen. Das AP ist kein geschlossenes Erziehungskonzept, sondern stellt eher ein Konglomerat esoterischer Glaubenssätze dar. Im Endeffekt bietet das AP einfache Handlungsanweisungen, die flexibel den eigenen Bedürfnissen angepasst werden können, und legitimiert diese entweder pseudowissenschaftlich, wie bei der Berufung auf die Bedeutung der Hormone für die elterliche Beziehung zu ihren Kindern, oder mit dem subjektiven Gefühl bzw. der »natürlichen Intuition der Mutter«. Es ähnelt in seinem Verhältnis zur Realität der Astrologie und anderen esoterischen Lebensphilosophien. Wie Horoskope bestehen die Texte über AP zu großen Teilen aus Banalitäten und Selbstverständlichkeiten, etwa der Feststellung, dass Säuglinge besonders viel Zuwendung brauchen. Die Grundsätze sind Dogmen, die weder hinterfragt noch vermutlich ganz geglaubt werden. Über das Verhältnis der Menschen zur Astrologie Mitte des 20. Jahrhunderts schreibt Adorno: »Sie halten sich an die Astrologie, weil es sie gibt, und verschwenden wenig Gedanken an ihre Legitimation vor der Vernunft, solange nur das psychologische Bedürfnis mit dem Angebot einigermaßen übereinstimmt.«13 Gleiches gilt heute für das AP.

»Breast is best«

Stillen wird vor allem als Möglichkeit begriffen, eine harmonische Bindung zwischen Mutter und Kind herzustellen.14 »Die Brust weiß, wie viel und wann das Baby Hunger hat – sie sind ein eingespieltes Team. Beim Stillen verstärkt sich durch ein komplexes Hormongefüge die Bindung zwischen Mutter und Kind.«15 Nicht nur das AP, sondern auch andere Erziehungstrends propagieren das Stillen als einzig babygerechte Ernährungsweise und befürworten das Langzeitstillen bis zum 2. Lebensjahr und darüber hinaus. Aber auch außerhalb dieser Zirkel erfreut sich das Stillen einer immer größeren Beliebtheit. »A strong level of orthodoxy […] dictates that ›breast is best' – an injunction that infects women whether they breastfeed or not […]. To a very real extent, infant feeding is an embodied measure of motherhood […] which has repercussions for virtually every aspect of infant care (where the baby sleeps, who can care for it, etc.).« Faircloth macht an dieser Stelle auf einen eminenten moralischen Konflikt aufmerksam, in welchen das AP Mütter verstricken kann. »In an era of ›informed choice', breastfeeding therefore operates as a highly moralised signifier dividing women into different camps along purported axes of children-centred or mother-centred forms of care.«16 Das AP, verbunden mit einem Ideal von Natürlichkeit, wie es sich zum Beispiel auch im Boom von ökologisch produzierter Nahrung zeigt, treibt dabei die »children-centred« Seite auf die Spitze. Während das Stillen in den 1960ern, 1970ern und auch noch 1980ern weniger verbreitet war, werden Mütter heute oft beargwöhnt, die ihr Kind nicht stillen, nicht selten wird das Füttern mit der Flasche mit Kindeswohlgefährdung gleichgesetzt. Wurde das Stillen vor drei Jahrzehnten noch in breiten Teilen der Gesellschaft als rückschrittlich, unhygienisch und ungesund angesehen, gilt heute ›je natürlicher, desto besser‹. Frank Apunkt Schneider denunziert in einem Text über die Erziehung seiner Kinder nachträglich die gesellschaftliche und persönliche Bedeutung des Stillens: »Fürs Stillen haben wir uns damals aus freien bzw. reflektionsfreien Stücken entschieden. […] Wenigstens der penetrante Rekurs auf die Natur, die es doch so gut eingerichtet hatte und deren Erzeugnisse kein Labor und keine Fabrik je übertreffen könnten, hätte uns stutzig machen müssen! Wussten wir etwa nicht, dass, wo Natur draufsteht, stets Ideologie drin ist?«17

Es gibt an dieser Stelle einen eklatanten Widerspruch zwischen Erziehungsdiskursen, die sich wesentlich auf Natürlichkeit und biologische Begründungsmuster stützen, und feministischen Argumentationen, die sich postmodern beeinflusst soweit wie möglich von Biologie und somatischen Aspekten von Körperlichkeit lösen. Dabei stellen AP und verwandte Erziehungsstile eher einen konservativen, derzeit virulenten Backlash dar, der althergebrachte pseudobiologische Argumente gegen Genderdiskurs und Regenbogenfamilie wiederbelebt.

 »Sleep sharing: The family bed«

AP-Vertreter_innen konstatieren: Für das gemeinsame Schlafen im Familienbett oder Elternzimmer gilt, dass die direkte Nähe des Kindes zur Ausschüttung von Hormonen führt, die wiederum den positiven Effekt erzeugen, die Mutter-Kind-Bindung zu stärken.18 Es wird angeführt, dass Schlaftrainings oder getrenntes Schlafen hingegen zur Freisetzung des Stresshormons Cortisol führen, was Langzeiteffekte bezüglich der Emotionsregulierung, der Schlafmuster und des Verhaltens im Allgemeinen verursache.19

Dabei erfahren Hormone wie Cortisol und Prolaktin eine mystische Aufladung und übernehmen eine ähnliche Funktion wie die Vorstellungen von der Bedeutung des subjektiven Gefühls. All dies soll die Evidenz des AP-Konzeptes unterstreichen. Es ist typisch für die Argumentation von AP-Vertreter_innen, aber auch anderen Still-Aktivist_innen, dass subjektives Gefühl und Biologie in Verbindung gebracht werden. Gerade weil das Gefühl von der Biologie bestimmt würde, wäre es besonders wichtig und wahrhaftig. »It was typical to hear women describe their experiences of breast­feeding with reference to the hormones involved in the process, and in turn, the feelings that these were understood to generate.«20

»Babywearing: Best seat in the house«21

Das sogenannte »Babywearing«, also das permanente Tragen des Kindes eng am Körper, ergänze den Bindungsprozess, da Kinder und Erwachsene positiven Körperkontakt bräuchten, um Geborgenheit und Liebe zu erfahren. Die Mutter und ihr Kind werden noch enger aneinander gebunden und verschmelzen scheinbar zu einer vollkommen symbiotischen Einheit. »Während der ersten Lebensmonate wird das Baby häufig der einzige Lebensinhalt und die einzige Beschäftigung der Mutter sein.«22 Folgerichtig werden Mütter aufgefordert, möglichst viel Zeit mit ihren Kindern zu verbringen: So wird der Mutter geraten, das schlafende Baby doch mal zu einer Verabredung mitzunehmen, es umgebunden in das eigene Sportprogramm zu inte­grieren oder mit den Arbeitgeber_innen einen möglichst kinderfreundlichen Arbeitsplan auszuarbeiten.23 Das verbundene Kind kann nur in Kombination mit der gebundenen Mutter existieren, diese muss permanent verfügbar sein. Die von der Frauenbewegung erkämpfte Emanzipation von Frauen steht somit im fundamentalen Widerspruch zu den Grundideen des AP.

Instinkt, Evolution, Natur

In Deutschland gibt es eine große inhaltliche Nähe von AP-Gruppen zu ökologisch angehauchten Strömungen und Lebensstilen, die verstärkt auf Nachhaltigkeit setzen. Technische Innovationen, die Frauen ein Stück Unabhängigkeit und eine gewisse Loslösung vom Kind ermöglichten, z. B. Milchpulver oder das Babyphone, werden von den Befürworter_innen des AP im Wesentlichen abgelehnt. Muttermilch sei demnach besser als jedes industriell gefertigte Produkt, auch wiederverwendbare Windeln und die eigenständige Zubereitung von Babynahrung sowie die Bejahung von Heimgeburten stehen hoch im Kurs.24 AP sei »ressourcenarmes Parenting, da man die frei gesetzte Energie einsetzen kann, um daraus eine nachhaltigere Lebensweise zu entwickeln!«25 Es ist nicht verwunderlich, dass der offizielle Hauptkooperationspartner beim deutschen »Attachment Parenting Kongress« die anthroposophische Firma Weleda war.

Innerhalb des AP-Spektrums existiert zugleich eine Strömung, die auf indigene Lebensweisen, die Evolution und die Urzeit rekurriert und darauf aufbauend bestimmt, was »artgerecht« sei. Diese Strömung bietet beispielsweise Camps an, in denen ein angebliches »Clanleben« erfahrbar werden soll.26 Gemeinsames Schlafen als Basiskomponente des AP wird durch historischen Rückbezug legitimiert, denn »alleine zu schlafen war in den vergangenen 100.000 Jahren immer eine tödliche Gefahr. Der Körper der Mutter hat sich im Laufe der Evolution so entwickelt, dass sie ihre Nachkommen nachts wärmt, schützt und ohne zu Erwachen ständig weiß, ob alles okay ist. Ihr Schlafrhythmus passt sich direkt nach der Geburt an den Rhythmus ihres Babys an.«27 Der Begriff Evolution erfährt durch AP-Vertreter_innen eine eigenwillige Interpretation, sie begreifen Evolution nicht als voranschreitende Entwicklung, sondern eher als einen Zustand, zu dem man zurückkehren könne. Die Evolution sei demnach eine vorzivilisatorische Phase, in der die Menschen noch lebten, wie es die Natur eingerichtet hätte, indem sie ihren natürlichen Instinkten folgten.

Auch Sears rekurrierte zumindest zu Beginn seiner Entwicklung von AP auf indigene Gruppen. Dabei griff er das sogenannte »Kontinuum-Konzept« von Jean Liedloff auf. Dies wurde von der US-amerikanischen Autorin und Psychotherapeutin in den 1970ern entwickelt, nachdem sie längere Zeit bei einer indigenen Gruppe in Venezuela verbracht und die dortige Kindererziehung beobachtet hatte. Ihre Beobachtung war, dass es bei dieser Gruppe kaum zu Erziehungskonflikten kam, da Säuglinge und Kleinkinder unbegrenzten intensiven Körperkontakt haben konnten. Vielmehr komme es dabei zu einer kontinuierlichen Entwicklung von Individuen in Abstimmung mit den Erfordernissen der Evolution.28

Der Rückbezug auf Urzeit und Evolution sollen den Anschluss an eine unverstellte Ursprünglichkeit ermöglichen. AP sei nicht neu, sondern folge einem Imperativ, der sich aus dem tiefverwurzelten instinktiven Verhalten speise.29 Frauen, implizit als Gefühlswesen verstanden, sollten sich danach befragen, was die eigenen Instinkte und Gefühle ihnen sagen würden, und herausfinden, was das Kind wirklich braucht.30 Sie fänden auf diese Weise »Antworten, die wir sowieso schon in uns tragen. Nur haben wir verlernt, auf unsere Gefühle und unseren Instinkt zu vertrauen.«31 In dieser Argumentation verdichten sich noch einmal alle esoterischen Momente und Begründungsmuster des AP, während gleichzeitig ein pseudorationaler Charakter aufrecht erhalten wird. Dieses Doppelmoment von esoterischer Mystifikation und pseudowissenschaftlicher Rationalität ist kennzeichnend für das AP.

An diese Argumentationsweise durchaus anschlussfähig ist eine sich explizit als feministisch begreifende, positive Rezeption des AP. Diese knüpft an die esoterischen Strömungen des Differenzfeminismus der 1970er und 1980er an. AP bedeute eine Möglichkeit zur Emanzipation gegenüber männlicher Schulmedizin und Geburtshilfe sowie deren Zugriff auf den weiblichen Körper.32 Es würde das Recht der Frauen stärken, zu verstehen, wie ihr Körper funktioniere, wie mächtig sie im Leben ihres Kindes seien und dass sie eine lebensspendende Kraft besäßen. Zugleich erlaube AP den Müttern im Gegensatz zum gesellschaftlichen Mainstream eine Auszeit für Erholung und biete somit die Möglichkeit, sich nach und nach an die Mutterschaft zu gewöhnen. AP würde insbesondere die Mütter darin bestärken, ihren Instinkten, ihrem Herzen und ihrer Seele zu folgen und das zu tun, was sich für sie richtig anfühlt.33 Es wäre zudem deshalb feministisch, da es den Mythos durchbreche, dass Frauen, um erfolgreich Kinder zu erziehen, auf eine Unmenge von Produkten und Dienstleistungen zurückgreifen müssten und ihre eigenen Körper und Instinkte nicht genug seien.34 Stillen und das gemeinsame Schlafen im Elternbett würden zudem nur deshalb kontro­vers diskutiert, weil die Vorstellung, dass Brüste und das Ehebett für etwas anderes als Sex verwendet werden, nicht mit der patriarchalen Botschaft, wonach die (sexuellen) Bedürfnisse eines Mannes vor denen seiner Familie kommen, kompatibel wären. AP würde eher einen egalitären Familiendiskurs ermöglichen, da es die Bedürfnisse des Kindes und die Biologie der Mutter vor diejenigen des Vaters setzen und die Fähigkeiten und Leistungen der Mütter anerkennen würde.35 Dabei geht diese Variante des Feminismus gleich soweit, Sexualität ganz aus dem Elternbett zu verbannen. Zum Schutze vor einer als verroht und sexbesessen vorgestellten Männlichkeit erfolgt hier ein Rückzug alleine auf die reproduktive Funktion von Weiblichkeit.

Mutter, Vater, Kind

Bis zu welchem Maße die mütterliche Hingabe eingefordert wird, variiert. William Sears geht soweit, vorzuschlagen, dass Mütter keinen Beruf ausüben sollten, um so zu ermöglichen, dass die Ehefrauen zu Hause bleiben können. Dass es sich bei den Eltern um ein heterosexuelles Paar handelt und sie verheiratet sind, wird bei Sears vorausgesetzt. »Remember that you are raising somenone's future spouse. Your marriage is a model of what your children's marriages will be. While nobody's marriage is perfect, you do want your children to learn key values from your relationship with your spouse – respectful ways of interacting, helpfulness, enjoying each other's company, and happiness and contentment with one's role as a spouse and parent.«36

AP ist nicht nur auf die Zeit nach der Geburt beschränkt, vielfach wird Wert darauf gelegt, dass das Kind bereits im Mutterleib wahrnimmt, »wie seine Mutter fühlt, denkt und handelt. Es ist eine wichtige Zeit, in der eine erste Prägung stattfindet.«37 Bereits zu diesem Zeitpunkt mache das ungeborene Kind wichtige Erfahrungen: »Es spürt auch, wie die Mutter sich fühlt, wie es ihr geht, welche Einstellung sie zur Schwangerschaft hat.«38 Unbestritten wirken sich pränatale Wahrnehmungen und Einflüsse auf die Entwicklung des Säuglings aus. Aber diese sehr weitreichende Vorstellung, dass das ungeborene Kind so etwas Komplexes wie das Fühlen, Denken und Handeln der Mutter in einem engeren Sinne erfassen könne, trägt einen paranoiden Zug. Hierzu gesellt sich die Idee einer exklusiven Bindung zwischen Mutter und Kind als narzisstische Allmachtsphantasie. Narzisstisch, weil alleine vom Einfluss der Mutter Glück und Erfolg ihres Kindes abhingen, und allmächtig, weil hier von einer romantischen und widerspruchsfreien Mutter-Kind-Bindung phantasiert wird, welche von den Müttern einfach praktiziert werden könnte: »Vorbereitung vor der Empfängnis – Wenn möglich, bereite Dich geistig, körperlich und spirituell vor, bevor Du das Kind empfängst. Lese, stelle Fragen und achte auf Deinen Körper.[…] Sei aufmerksam und aktiv während der Geburt Deines Babys – Bereite Dich vor, lerne, was Du zu erwarten hast und verstehe, welche Auswahlmöglichkeiten Du hast. Im allgemeinen (sic): je weniger Eingriffe während der Geburt, desto besser ist es für Mutter und Baby.«39 Die Vorstellung, das Glück des Kindes hinge ganz alleine von einem selber ab, kann eine sehr beängstigende und erdrückende Wirkung haben. Wenn man sich jedoch vorstellt, man habe alles im Griff und könne die Handlungsanweisungen ganz einfach umsetzen, wie dies AP-Blogs suggerieren, kann dies narzisstisch genossen werden.

Die starke Betonung des Stillens und der pränatalen Bindung zwischen Mutter und Kind bürden die Verantwortung für die frühe »gesunde« Entwicklung des Kindes alleine der Mutter auf. Aber auch danach ist sie es, die beim AP die wesentlichen Aufgaben bei der Betreuung und Erziehung der Kinder zu übernehmen hat, dagegen wird dem Vater eine eher passive Rolle übertragen, die darin besteht, die Mutter bei der Etablierung einer sicheren Bindung zum Baby zu unterstützen. Zusätzlich sollen sich die Mütter verpflichten, eine starke Beziehung zum eigenen Partner einzugehen, um sicherzustellen, dass die Bedürfnisse und das Wohlergehen des eigenen Babys an erster Stelle stehen, wenn es darum geht, Entscheidungen zu treffen.40 Da das AP eine exklusive Eltern-Kind-Beziehung proklamiert und externe Kinderbetreuung eher ablehnt, ist eine Berufstätigkeit beider Elternteile so gut wie unmöglich. Die Mutter soll das Kind möglichst lange stillen, dabei kann sie schwerlich berufstätig sein.41 Somit läuft die Entscheidung für AP im Prinzip auf ein patriarchales Familienmodell mit dem Mann als Versorger der Familie und der Frau als Hausfrau und Mutter hinaus.

Im Kapitalismus sind Produktions- und Reproduktionssphäre untrennbar verflochten und aufeinander bezogen und fallen doch auseinander. Seit Beginn der bürgerlichen Gesellschaft hat es immer wieder Verschiebungen in dem stets konfliktvollen Verhältnis von Privatleben und Beruf gegeben. In der Aufladung des Intimen und Familiären romantisiert AP die Trennung von Produktions-und Reproduktionssphäre. AP kann als Wunschbild einer Eltern-Kind-Beziehung, die durch Nichtaustauschbarkeit geprägt sein soll, interpretiert werden. In einer Gesellschaft, die auf dem Tauschprinzip basiert und damit alles potenziell austauschbar macht, werden permanent Ängste vor der eigenen Überflüssigkeit produziert: »Wir leben eben in einer Totalität, die die Menschen nur vermöge ihrer Entfremdung miteinander zusammenschließt; und wenn ich Ihnen gesagt habe, daß die gegenwärtige Gesellschaft nur durch Individuation hindurch vermittelt sei, dann hat das auch den kritischen Sinn […], daß gerade durch das principium individuationis, mit anderen Worten: dadurch, daß in den herrschenden Gesellschaftsformen die je einzelnen Menschen ihren je einzelnen Vorteil, den Profit suchen, daß gerade durch dieses Beharren auf dem Individuationsprinzip das Ganze überhaupt sich stöhnend, ächzend und unter unaussprechlichen Opfern am Leben erhält und überhaupt reproduziert.«42 Zu diesen Opfern zählen zum Beispiel die bürgerliche Kälte und Gleichgültigkeit, die zu all den Grausamkeiten führen, die Kindern in der Familie und pädagogischen Einrichtungen angetan werden können. Das AP polemisiert gegen das Individuationsprinzip und setzt die Bindung der Entfremdung entgegen. Hierfür wird die Frau gänzlich auf ihre angeblichen natürlichen, seit der Urzeit trefflich eingerichteten Mutterinstinkte reduziert und die Kinder in einen Kokon eingehüllt, der sie vor allen äußeren, gesellschaftlichen Einflüssen schützen soll.

Zwar legt AP seinen Fokus insbesondere auf die frühe Kindheit, jedoch wird davon ausgegangen, dass die in diesem Alter etablierte Bindung auch in den späteren Jahren der kindlichen Entwicklung von Bedeutung sein wird. Es existiere auch im Teenageralter eine enge Bindung zwischen Eltern und Kind. Diese Art von Teenager »rebelliert nicht, denn es gibt nichts, wogegen er rebellieren müsste. Seine Eltern sind seine Alliierten im Leben. Er weiß, dass sie sein Bestes wollen.«43 Wurde in der Vergangenheit genug Nähe und Zuneigung in das Kind investiert, könne auch nur Gutes im späteren Leben des Kindes und bei der Entfaltung seiner Persönlichkeit zum Vorschein kommen. Gerade dieses Bild der Adoleszenz und einer reibungslosen, konfliktfreien Beziehung zwischen pubertierenden Jugendlichen und ihren Eltern, welches den AP-Vertreter_innen als Ideal gilt, spricht wenig für eine Orientierung an den Bedürfnissen der Kinder und Jugendlichen, sondern zeugt von einer Phantasie, die sich die Familie als Hort von Geborgenheit und Konfliktlosigkeit erträumt. In diesem Familienideal hängt eine gelungene Entwicklung und Individuierung eines Kindes von der Exklusivität der Eltern-Kind-Beziehung ab. Je weniger äußere Einflüsse auf das Kind einströmen, desto erfolgreicher solle dessen Entwicklung verlaufen. In den Worten von Sears zu Pubertierenden offenbart sich außerdem, wie viel Sexualfeindlichkeit beim AP mitschwingt: »They'll come to their parents for a reassuring hug even as teenagers. They know how to seek appropriate human contact, making them less likely to seek out sexual relationships when what they really want is friendship and emotional closeness.«44

Eine Passage in Adornos Radiovortrag »Erziehung nach Auschwitz«, liest sich wie eine vorweggenommene Kommentierung des AP: »Man möchte meinen, je weniger in der Kindheit versagt wird, je besser Kinder behandelt werden, um so mehr Chance sei. Aber auch hier drohen Illusionen. Kinder, die gar nichts von der Grausamkeit und Härte des Lebens ahnen, sind, einmal aus dem Geschützten entlassen, erst recht der Barbarei ausgesetzt. Vor allem kann man Eltern, die selber Produkt dieser Gesellschaft sind und ihre Male tragen, zur Wärme nicht animieren. Die Aufforderung, den Kindern mehr Wärme zu geben, dreht die Wärme künstlich an und negiert sie dadurch.«45 Dabei gilt natürlich, dass sich Erziehungspraxis grundsätzlich in einem Dilemma befindet. Denn autoritär und inhuman wäre die Forderung, Erziehung in Vorbereitung auf die entfremdete Gesellschaft bräuchte etwas mehr Kälte und Härte. Zu kritisieren am AP ist, dass Konflikte und Widersprüche, in die sich sein Anspruch zu den Anforderungen der herrschenden Gesellschaft notwendig verstricken muss, einseitig in einem verkitschten Bild von Kindheit, Mütterlichkeit und Elternschaft aufgelöst werden.

 

ANMERKUNGEN

1 Vgl. http://geborgen-wachsen.de/kooperationen/

2 Vgl. C. Faircloth: Militant lactivism? Attachment Parenting and Intensive Motherhood in the UK and France«, New York, Oxford 2013: S. 1-15; 105

3 Vgl. http://www.skepticalob.com/2013/03/natural-childbirth-attachment-parenting-and-policing-womens-bodies.html

4 Vgl. http://parenting.blogs.nytimes.com/2012/04/13/has-motherhood-replaced-sexism/?_r=0. Die Gynäkologin Amy Tuteur kritisiert: »All three [natural childbirth, lactivism und attachment; M.S./V.B.] locate the center of women’s worth in her body (specifically her vagina and breasts) and generate elaborate prescriptions for women’s use of their own bodies that essentially control how they use their bodies every minute of every day. I firmly believe that women’s bodies should be controlled by women themselves, not by groups who prescribe the ›correct‹ way to give birth, the ›correct‹ way to nourish a baby, and the ›correct‹ way to nurture a baby.« http://www.skepticalob.com/2013/03/natural-childbirth-attachment-parenting-and-policing-womens-bodies.html

5 T.W. Adorno: Erziehung nach Auschwitz, in: ders: Gesammelte Schriften Bd. 10.2, F.a.M. Frankfurt a. M. 1977,: S. 678f.

6 http://attachment-parenting.de/uber-uns/

7 http://attachment-parenting.de/allgemein/die-8-idelae-des-attachment-parenting-von-attachment-parenting-international

8 http://attachment-parenting.de/allgemein/einfuhrung-in-das-ap/

9 C. Faircloth: Militant lactivism? Attachment Parenting and Intensive Motherhood in the UK and France, New York, Oxford 2013, : S. 162

10 C. Faircloth: Militant lactivism? Attachment Parenting and Intensive Motherhood in the UK and France, New York, Oxford 2013: S. 105

11 Vgl. http://www.attachmentparenting.org/support/articles/bonding#sthash.w1jqcqvq.dpuf

12 C. Faircloth: Militant lactivism? Attachment Parenting and Intensive Motherhood in the UK and France, New York, Oxford 2013: S. 123

13 T.W. Adorno: Aberglauben aus zweiter Hand, in: ders.: Soziologische Schriften Bd. 1, Gesammelte Schriften Bd. 8, Frankfurt a. M. 1972: S. 148

14 Vgl. http://www.attachmentparenting.org/principles/feed#sthash.ZusDcZMw.dpuf

15 http://www.artgerecht-projekt.de/downloads/artgerecht-stillen/

16 C. Faircloth: Militant lactivism? Attachment Parenting and Intensive Motherhood in the UK and France, New York, Oxford 2013: S. 4

17 F. Apunkt Schneider: Stillstand oder von der ideologisch belasteten Muttermilch. Versuch einer viel zu spät durchgefüghrten Diskursanalyse, in: Mecklenbrauck, Annika / Böckmann, Lukas (Hg.): The Mamas and the Papas. Reproduktion, Pop und widerspenstige Verhältnisse, Mainz 2013: S. 139

18 Vgl. http://www.nytimes.com/roomfordebate/2012/04/30/motherhood-vs-feminism/attachment-parenting-is-feminism

19 Vgl. http://www.attachmentparenting.org/principles/night#sthash.NSMD6kRC.dpuf

20 C. Faircloth: Militant lactivism? Attachment Parenting and Intensive Motherhood in the UK and France, New York, Oxford 2013: S. 163

21 »Best seat in the house« war das Motto der »International babywearing-week 2016«, vgl. https://babywearinginternational.org/ .

22 http://attachment-parenting.de/allgemein/die-8-idelae-des-attachment-parenting-von-attachment-parenting-international/

23 Vgl. http://www.attachmentparenting.org/principles/care

24 Vgl. http://www.nytimes.com/roomfordebate/2012/04/30/motherhood-vs-feminism/attachment-parenting-is-feminism

25 http://www.attachment-parenting-kongress.de/media/unerzogen-ApKongress.pdf

26 Vgl. http://www.artgerecht-projekt.de/downloads/artgerecht-leben/

27 http://www.artgerecht-projekt.de/downloads/artgerecht-schlafen/

28 Vgl. http://kingkalli.de/attachment-parenting-neuer-schrei-alter-hut-oder-neidgruener-zankapfel/

29 Vgl. http://www.attachmentparenting.org/principles/api

30 Vgl. http://www.attachmentparenting.org/principles/prepare

31 http://geborgen-wachsen.de/faq/

32 Vgl. http://www.nytimes.com/roomfordebate/2012/04/30/motherhood-vs-feminism/attachment-parenting-is-feminism

33 Vgl. http://attachmentfeminism.com/attachment-parenting-and-feminism-a-reflection-for-feministfriday/

34 Vgl. http://www.huffingtonpost.co.uk/chrissy-chittenden/attachment-parenting-feminsim_b_5018564.html

35 Ebd.

36 W. Sears und M. Sears: The Sucessful Child, Boston, New York, London 2002: S. 248

37 http://attachment-parenting.de/schwangerschaf; http://geborgen-wachsen.de/faq/

38 http://geborgen-wachsen.de/faq/

39 http://attachment-parenting.de/allgemein/die-8-idelae-des-attachment-parenting-von-attachment-parenting-international/

40 Ebd.

41 Ebd.

42 T.W. Adorno: Einleitung in die Soziologie, Frankfurt a. M. 1993: S. 77f.

43 http://geborgen-wachsen.de/2015/08/19/wie-kinder-mit-attachment-parenting-zu-unabhaengigen-teenagern-werden/

44 W. Sears und M. Sears: The Sucessful Child, Boston, New York, London 2002: S. 29

45 T.W. Adorno: Erziehung nach Auschwitz, in: ders: Gesammelte Schriften Bd. 10.2, Frankfurt a. M. 1977: S. 688


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